Mutterstimme wahr. Aus
vielfältigen Versuchen ist bekannt, dass das Neugeborene diese Stimme nicht nur wieder
erkennt, sondern auch Veränderungen in einer vorgeburtlich regelmäßig von der
Mutter vorgelesenen Geschichte wahrnimmt (vgl. DeCasper/Spence 1986). Die in
dieser Art Versuchsaufbau verwendeten präparierten Schnuller ermöglichen es
den Säuglingen auch, durch ihren Saugrhythmus Einfluss auf die Darbietung
der Stimuli zu nehmen. Die kleinen Versuchspersonen finden jeweils schnell
heraus, wie sie saugen müssen, um die ihnen vertraute Version einer Darbietung
auszulösen.
Offensichtlich legt das Gehirn erste
Gedächtnisspuren linguistischer Merkmale des mütterlichen Sprachschalles
an. Diese ersten Gedächtnisspuren (Engramme) befähigen schließlich das
Neugeborene, einst wahrgenommene Sprachmuster wieder zu erkennen und
sie von neuartigen zu unterscheiden. (Meier-Koll 1995, S. 83).
Auch – oder vielleicht besonders – der Sprachrhythmus spielt hier eine bedeutende Rolle,
Tomatis spricht von »Morsezeichen, die auf einem Kontinuum erkennbar werden«
(Tomatis 1995, S. 190).
Rhythmische Mundbewegungen als Bindeglied zwischen Außen- und Innenwelt
Neben der nachgewiesenen Gedächtnisleistung führen die Versuche mit präparierten
Schnullern (vgl. auch Schrader 1993) vor Augen, dass der Mundbereich zum Zeitpunkt
der Geburt über differenzierte Fertigkeiten verfügt. Günter Clauser wertet Saugen,
Lutschen und Schreien als orale Tätigkeiten mit vergleichbarer Funktion (vgl.
Clauser 1971, S. 35ff.) und legt eindrucksvolles Bildmaterial zu den genannten
Aktionsformen vor. Er weist darauf hin, dass die ersten Empfindungen dem sich
entwickelnden Menschen nicht von außen, sondern von innen zukommen: Interoceptoren
vermitteln Informationen über die Eingeweide bzw. das Blut, später sorgen
Propriozeptoren für Informationen aus Muskeln, Sehnen oder Gelenken, zum Ende
der Schwangerschaft verschaffen Exteroceptoren Sinneserfahrungen über die
Haut.
Das genetische Primat der Innenwelt gegenüber der Außenwelt wird
nun von zwei Sinnesbereichen vor der Geburt durchbrochen. Es sind
dies typischerweise wiederum die beiden ›Sprachregionen‹, nämlich das
Labyrinth und die Mundhöhle. Sie dienen von Anfang an gleichzeitig der
Information aus der inneren und der äußeren Umwelt. (ebd., S. 77; vgl. auch
Tomatis 1995, S. 126f.).
Für Clauser sind Trinken und vorgeburtliches ›Schreien‹ identische Reaktionen auf das
akustisch-rhythmische Erlebnis im Mutterleib. Das Schreien nach der Mutter und das
Saugen der Nahrungsaufnahme sind seiner Auffassung nach intrauitern erworbene
rhythmische Verhaltensmuster.
Was nach der Geburt durch Sinneswahrnehmung von außen her erworben
wird, ist in seiner vitalen Bedeutung längst verinnerlicht und in
ontogenetisch älteren Funktionen verhaftet. So wurzelt die Sprache
im Monolog der akustisch-oralen Rhythmik, die schon im Uterus den
stimmlichen Dialog zwischen Mutter und Kind nach der Geburt vorbereitet.
Damit ist Menschensprache – längst bevor sie laut wurde – mit Hilfe fetaler
Sinnesorgane