- 65 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (64)Nächste Seite (66) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Mutterstimme wahr. Aus vielfältigen Versuchen ist bekannt, dass das Neugeborene diese Stimme nicht nur wieder erkennt, sondern auch Veränderungen in einer vorgeburtlich regelmäßig von der Mutter vorgelesenen Geschichte wahrnimmt (vgl. DeCasper/Spence 1986). Die in dieser Art Versuchsaufbau verwendeten präparierten Schnuller ermöglichen es den Säuglingen auch, durch ihren Saugrhythmus Einfluss auf die Darbietung der Stimuli zu nehmen. Die kleinen Versuchspersonen finden jeweils schnell heraus, wie sie saugen müssen, um die ihnen vertraute Version einer Darbietung auszulösen.

Offensichtlich legt das Gehirn erste Gedächtnisspuren linguistischer Merkmale des mütterlichen Sprachschalles an. Diese ersten Gedächtnisspuren (Engramme) befähigen schließlich das Neugeborene, einst wahrgenommene Sprachmuster wieder zu erkennen und sie von neuartigen zu unterscheiden. (Meier-Koll 1995, S. 83).

Auch – oder vielleicht besonders – der Sprachrhythmus spielt hier eine bedeutende Rolle, Tomatis spricht von »Morsezeichen, die auf einem Kontinuum erkennbar werden« (Tomatis 1995, S. 190).

Rhythmische Mundbewegungen als Bindeglied zwischen Außen- und Innenwelt

Neben der nachgewiesenen Gedächtnisleistung führen die Versuche mit präparierten Schnullern (vgl. auch Schrader 1993) vor Augen, dass der Mundbereich zum Zeitpunkt der Geburt über differenzierte Fertigkeiten verfügt. Günter Clauser wertet Saugen, Lutschen und Schreien als orale Tätigkeiten mit vergleichbarer Funktion (vgl. Clauser 1971, S. 35ff.) und legt eindrucksvolles Bildmaterial zu den genannten Aktionsformen vor. Er weist darauf hin, dass die ersten Empfindungen dem sich entwickelnden Menschen nicht von außen, sondern von innen zukommen: Interoceptoren vermitteln Informationen über die Eingeweide bzw. das Blut, später sorgen Propriozeptoren für Informationen aus Muskeln, Sehnen oder Gelenken, zum Ende der Schwangerschaft verschaffen Exteroceptoren Sinneserfahrungen über die Haut.

Das genetische Primat der Innenwelt gegenüber der Außenwelt wird nun von zwei Sinnesbereichen vor der Geburt durchbrochen. Es sind dies typischerweise wiederum die beiden ›Sprachregionen‹, nämlich das Labyrinth und die Mundhöhle. Sie dienen von Anfang an gleichzeitig der Information aus der inneren und der äußeren Umwelt. (ebd., S. 77; vgl. auch Tomatis 1995, S. 126f.).

Für Clauser sind Trinken und vorgeburtliches ›Schreien‹ identische Reaktionen auf das akustisch-rhythmische Erlebnis im Mutterleib. Das Schreien nach der Mutter und das Saugen der Nahrungsaufnahme sind seiner Auffassung nach intrauitern erworbene rhythmische Verhaltensmuster.

Was nach der Geburt durch Sinneswahrnehmung von außen her erworben wird, ist in seiner vitalen Bedeutung längst verinnerlicht und in ontogenetisch älteren Funktionen verhaftet. So wurzelt die Sprache im Monolog der akustisch-oralen Rhythmik, die schon im Uterus den stimmlichen Dialog zwischen Mutter und Kind nach der Geburt vorbereitet. Damit ist Menschensprache – längst bevor sie laut wurde – mit Hilfe fetaler Sinnesorgane


Erste Seite (i) Vorherige Seite (64)Nächste Seite (66) Letzte Seite (264)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 65 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus