- 117 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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kindlichen (präoperationalen) Denken eine hohe Dauer abgeleitet. Dem Kind ist die umgekehrt proportionale Beziehung von Tempo und Zeitverbrauch (Dauer) noch nicht klar. Diese Tatsache ist für den musikalischen Zusammenhang bedeutsam: Wie weiter unten gezeigt werden wird, spielt gerade das Phänomen reziproker Rationalität eine wichtige Rolle im Umgang mit den tradierten Notenwerten.
Zeitbeurteilung im anschaulichen (präoperationalen) Denken bedeutet
&mdash   Gleichsetzung von Tempo und Zeit/Dauer (schnell = viel Zeit),
&mdash   Gleichsetzung von Größe und Zeit/Alter (groß = alt),
&mdash   fehlendes Verständnis für die umgekehrt proportionale Beziehung von Tempo und Dauer.

Dauer, Reihenfolge und Zeitpunkte als objektive Kriterien von Zeit

Die Ebene der vollen, ›erwachsenen‹ Zeitverarbeitung ist dann erreicht, wenn ein Verständnis für die unveränderlich gleichmäßig ablaufende Zeit – die objektive Zeit sozusagen – existiert. Diese Distanz zum subjektiven Erleben der Dauern kann auch als Dezentrierung bezeichnet werden (vgl. Piaget 1955, S. 70): ein objektives, mit der Uhr abgemessenes Zeitintervall bleibt von den darin geschehenden Ereignissen unberührt.

Das reife Verständnis von Zeit ist nach Piaget noch durch andere Merkmale charakterisiert. Unter dem Begriff Synchronismus versteht Piaget das Verständnis für die Identität von Zeit trotz unterschiedlicher Bewegungen. Bewegt sich beispielsweise eine Figur A genau so lange wie Figur B, allerdings schneller oder langsamer als diese, ist für Kinder in einem frühen Entwicklungsstadium noch lange nicht klar, dass sich beide Figuren trotzdem gleich lange bewegten. Erst in der kognitiven Weiterentwicklung entsteht die Erkenntnis, dass die Dauer vom Tempo unberührt, also objektiv gleich bleibt. Auch die Klarheit über das Verhältnis von Teildauer zur Gesamtdauer entsteht erst allmählich. Mit dem Begriff der ›Einschachtelung‹ meint Piaget einerseits Dauern bzw. Intervalle, die durch Start und Stopp begrenzt sind, andererseits das Verhältnis von Teildauern zur Gesamtdauer. Der Begriff Isochronismus kennzeichnet den Sachverhalt, dass identische Dauern auch wenn sie sukzessiv ablaufen als identisch erkannt werden (wenn beispielsweise die Zeitdauern verglichen werden sollen, in denen Gefäße nacheinander gefüllt werden).

Zeitbeurteilung im formal-operationalen Denken bedeutet Wissen um die Existenz der ›objektiven‹ Zeit unabhängig
&mdash   vom wahrgenommenen Tempo
&mdash   von der ›Position‹ eines Zeitintervalls.

Für das ›erwachsene‹ Verständnis von Zeit bedarf es schließlich auch der Integration der verschiedenen Merkmale wie Start (und Stopp), Dauer und Reihenfolge. Bei Start und Stopp handelt es sich um Zeitpunkte. In der Phonologie oder der Wahrnehmungspsychologie ist der Begriff ›onset‹ gebräuchlich, um den Startpunkt einer Lautäußerung von seinem Fortgang zu differenzieren; Jeanne Bamberger (1980) spricht im Zusammenhang mit Klatschrhythmen von der »attack time« (ebd., S. 175). Diese sprachlichen Bemühungen spiegeln die Komplexität der zeitlichen Vorgänge: Punkte begrenzen Dauern – und bestimmen dadurch eine Reihenfolge. Piaget drückt diesen Sachverhalt so aus:


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