- 100 -Lehmann, Silke: Bewegung und Sprache als Wege zum musikalischen Rhythmus 
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teilweise widersprüchlich und deuten auf große interindividuelle Differenzen hin. In einer der geschilderten Untersuchungen wurden Versuchspersonen unterschiedliche Hörbeispiele präsentiert, die alle identisch lang waren.

Nicht eine einzige Vpn bemerkte die Gleichheit der 30 Beispiele; wenn hinterher darüber gesprochen wurde, ergab sich stets große Verblüffung. Es ist dies vielleicht das wichtigste Ergebnis, daß der zeitverändernde Effekt der Musik so stark empfunden wird und auch dann noch zu beobachten ist, wenn man um die Gleichheit der Beispiele weiß. (ebd., S. 151).

Gesetzmäßigkeiten zu finden, die verlässlich Über- oder Unterschätzung bewirken, scheint nahezu unmöglich.

Alf Gabrielsson (1983) untersuchte die Interpretation von Rhythmen und stellte fest, dass diese teilweise extreme Abweichungen von der notierten Zeitgestalt aufweisen. Die folgende Abbildung zeigt mit F I und F II unterschiedliche Ausführungen, die mit einem speziellen Computerprogramm analysiert wurden. Die mittlere Linie entspricht dabei einer ›mechanischen‹ Wiedergabe mit genauen Relationen von 2 : 1 in jedem Takt. Punkte oberhalb dieser Linie drücken eine Verlängerung der zugeordneten Note aus, Punkte unterhalb eine Verkürzung. Die Messeinheit besteht in Promill der Gesamtdauer. Die Abweichungen sind hier nicht auf Unvermögen oder Instabilität zurückzuführen, sondern Bestandteil der interpretierenden Gestaltung. Hörende empfinden sie nicht unbedingt als störend, sondern womöglich als angemessen, wenn nicht bereichernd. Die Abweichungen könnten einerseits mit einer großen Toleranz in der Wahrnehmung erklärt werden, andererseits zeigt sich hier die oben genannte Interaktion von Dauer und Akzentuierung besonders stark. Es fällt allerdings auf, dass im vorliegenden Beispiel (Abbildung unten) die eigentlichen Taktschwerpunkte (fast) konsequent verkürzt werden – zugunsten eines verlängerten Auftaktes. In Abschnitt 3.2.6 war Hugo Riemanns Sichtweise grundsätzlicher Auftaktigkeit dargestellt worden; womöglich sind die vorliegenden Interpretationen von dieser Sichtweise beeinflusst.

In diesem Zusammenhang muss noch einmal darauf verwiesen werden, dass biologische Rhythmen, wie sie innerhalb physiologischer Vorgänge stattfinden, eher ungefähr regelmäßig ablaufen und nicht mit starrer Präzision. Elastizität ist ein wichtiges Kennzeichen biologisch-zeitlicher Vorgänge. Dass sich dieser (unbewusste) Anspruch an Flexibilität auch auf die Rezeption von Musik bezieht, ist insofern nicht erstaunlich, im Gegenteil: die wahrnehmungspsychologisch vorgegebene Einheit von Dauer und Betonung wird in gelungenen musikalischen Interpretationen unterstützt.


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