- 94 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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Compilations des unteren Preissegments, wie etwa in Drogeriemärkten zu finden, propagieren schon im Titel eine andere Hörweise: »Astro-Classics«, »Klassik zum Träumen«, »Kuschel-Klassik« usw. Auch die Klassik-Konzerte selbst zieht es hinaus aus den Konzerthäusern (Klassik-Open-Airs, Schleswig-Holstein-Musikfestival, etc.). Doch gerade jugendliche Vandalen, Obdachlose oder Junkies fallen wohl kaum in die Zielgruppe der Marketingstrategien von Tonträgerindustrie oder Konzertveranstaltern. So ist für sie Klassik möglicherweise stärker mit dem tradierten Image behaftet als z. B. für eine Hausfrau, die zuweilen »Klassik zum Träumen« auflegt, letztlich ein persönliches Ritual, das ein geändertes Image der Musik zu befördern vermag.

Zurück zum Bahnhof. Bei einer »environmental Klassik« geht die Musiksemiotik über in eine Semiotik des Raums. Gerade weil die Musik hierdurch ihre rituellen Züge verliert, taugt sie überhaupt als potenzieller Verweis auf die »Images« der Rituale des tradierten bürgerlichen Konzertlebens. Die Darbietung der »Vier Jahreszeiten« durch einen Straßenmusiker ist ihrerseits ein präsentes Ritual, das einem Verweis auf die Gepflogenheiten in den »klassischen« Konzerthäusern im Wege steht. Erklänge der Classical-Kanal als Dauerberieselung ständig im Foyer eines Konzerthauses, wäre der Verweis wiederum eine Tautologie. Auch die räumliche Distanz ist also Grundvoraussetzung für solch eine ständig erklingende, »ordnungsstiftende« Botschaft. Das semiotische Potential einer »verräumlichten« Klassik erschließt sich jedoch erst im Zusammenhang mit anderen Verweisen im Raum. Mike Davis schreibt über Los Angeles:

»In vielen Fällen ist die Semiotik des sogenannten zu verteidigenden Raumes ungefähr so subtil wie ein großspuriger weißer Polizist. Die schicken, pseudoöffentlichen Räume von heute – Luxus-Einkaufpassagen, Bürozentren, etc. – sind voll unsichtbarer Zeichen, die den Anderen aus der Unterschicht zum Gehen auffordern. Architekturkritikern entgeht zwar meist, wie die gebaute Umwelt zu Segregation beiträgt, aber die Parias – die armen Latinofamilien, junge schwarze Männer oder obdachlose alte weiße Frauen, verstehen ihre Bedeutung sofort.«103

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Davis (1994) 262.

Im Falle des Hamburger Bahnhofsvorplatzes ruft nicht nur die Klassik-Beschallung möglicherweise zur Ordnung bzw. bestimmte Gruppen zum Verlassen des Raumes auf, sondern auch die sichtbaren Ordnungshüter von Polizei, BGS, privaten Sicherheitsdiensten und die Überwachungskameras. Aber auch andere räumliche Elemente können als sichtbare Zeichen für »Ordnung« gedeutet werden. So mögen z. B. die Recycling-Mülleimer vordergründig ökologischen Zwecken dienen, gleichzeitig (oder vielleicht stärker noch) sind sie auch Metaphern eines »ordentlichen Betragens«, in diesem Falle der sachgerechten, vorgesehenen Entsorgung von Abfall. Die Klassik-Beschallung ist also, obschon von der Deutschen Bahn AG sowie der Hochbahn AG als bloße »Verschönerungsmaßnahme« tituliert, durchaus in der Lage, ihren Beitrag zu sozialer Segregation zu leisten, wie sie richtigerweise auch in den Medien dechiffriert wurde. Paradoxerweise ist jedoch gerade diese Dechiffrierung theoretisch geeignet, diese Wirkung noch zu verstärken, indem sie dem immer noch konnotativen musikalischen Zeichen eine denotative Deutung zur Seite stellt. Denn


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