oder wie Panamas Diktator Noriega angeblich nach
tagelanger Beschallung mit AC/DC-Musik aus Helikoptern zur Aufgabe gezwungen
wurde.95
Zwar drängen sich hier – unter Berücksichtigung der allgemeinen Charakteristika
von Drogensucht – spekulative Erklärungsansätze auf, die letztlich einfachen
»stimulus-response«-Modellen oder informationstheoretischen Vorstellungen Rechnung
tragen. Das allgemeine Wesen der Drogensucht kann folgendermaßen zusammengefasst
werden:
»Der Süchtige nimmt seine Droge nicht, um sich besser oder anders als
normal zu fühlen, sondern um einen unerträglichen Spannungszustand zu
beseitigen. Die rauschmittelfreien Perioden quälen ihn und nur eine neue
Dosis kann diese Qualen dämpfen, auch wenn sie keine Euphorie mehr
erzeugt. Der Normalzustand hat sich gewissermaßen auf der Drogenebene neu
konstituiert.«96
Schmitbauer/Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen,1994, S. 620, zit. in Holziger
(1998) 43f.
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Man mag nun auch die Beseitigung solch eines Spannungszustandes als einen
Hauptgrund für das Aufsuchen des Hauptbahnhofs, als vormaligen Umschlagsplatz
harter Drogen, interpretieren. Zumindest bei all jenen anwesenden Drogenkonsumenten
am Bahnhof, die dieses Bedürfnis vorerst nicht befriedigen konnten, und bei denen man
also einen »quälenden Spannungszustand« diagnostizieren mag, könnte ein
Erklärungsversuch ansetzen. So belegte Sigrid Flath-Becker, dass in Situationen
psychischer Anspannung grundsätzlich eine weniger komplexe Musik bevorzugt
wird.97
Vgl. Flath-Becker (1987).
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Anke Brokmann hat herausgefunden, dass klassische Musik von
Laien grundsätzlich komplexer eingeschätzt wird als etwa von
Experten.98
Die Folgerung drängt sich auf, dass die Musik also bei jenen Konsumenten auf »Entzug«
als unangenehm empfunden worden ist. Dagegen spricht, dass – im Gegensatz zu den
Laborbedingungen der Untersuchungen – auf dem Bahnhofsvorplatz weder eine
Beurteilung der Musik abgefragt wird, noch irgendeine Wahlmöglichkeit des
Musikprogramms besteht. Auch könnte man aus dem Wesen der erklingenden Musik, die
grundsätzlich weniger durch repetitive Elemente geprägt ist als z. B. Pop, mutmaßen,
dass sie das Vergehen der Zeit bis zum »nächsten Schuss« auf unangenehme
Weise zu illustrieren vermag. Wie bereits in Kapitel 6.1.3 beschrieben, hätten
jedoch die hier unterstellten Wirkungen immer auch mit der Abhängigkeit vom
Umschlagplatz selbst konkurrieren müssen. So bleiben diese Annahmen hochgradig
spekulativ. Wahrscheinlicher ist, dass auch hier letztendlich eher Effekte der
Habitualisierung zum Tragen kommen. Besser zu fassen ist eine mögliche Wirkung der
Beschallung, wenn man die Zeitebene vernachlässigt und den Fokus auf den
architektonischen Charakter der permanenten Beschallung mit dem Classical-Kanal
lenkt.
6.2.3. Der Classical-Kanal als »Environmental Music«
Die Musikbeschallung mit dem Classical-Kanal schafft – hier begriffen als »environmental
music« – »Klassik-Zonen« im öffentlichen Raum. Über die eigenen Lautsphären der
U-Bahnhöfe und des Bahnhofsvorplatzes stülpt sich ein ebenso
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