- 89 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (88)Nächste Seite (90) Letzte Seite (110)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

In diesem hierarchisch angelegten Modell, welches Musikwahrnehmung im Alltag vor allem als (facettenreichen) kognitiven Prozess begreift, dürfte es die »klassische« Hintergrundmusik vom Hauptbahnhof kaum über die ersten beiden Stadien hinaus bringen. Sie empfiehlt sich geradezu, eher als ein undifferenziertes Klischee klassischer Musik (im weitesten Sinne) wahrgenommen zu werden. Allein der »Fließbandcharakter« des »streams« vermag es, eine Individualisierung der Wahrnehmung mit all den angeführten Merkmalen (Stufe 3) weitgehend auszuschließen.

Während die meisten Fahrgäste und Passanten wohl jeweils höchstens 5 Minuten lang die Musik am Bahnhof vernehmen – und das auch nur, wenn sie U-Bahnhof und Bahnhofsvorplatz passieren – ist die Dauer der Wahrnehmung durch unerwünschte »Randgruppen«, die sich am Bahnhof aufhalten mögen, erheblich länger. Im Folgenden gilt es daher beim Diskutieren möglicher Wirkungsweisen, zwischen einer »flüchtigen« und einer verlängerten Wahrnehmungssituation zu differenzieren.

Zunächst ist zu bemerken, dass die auf maximal 5 Minuten geschätzte »flüchtige« Wahrnehmung in etwa mit der maximalen Dauer der Stücke des Classical-Kanals korrespondiert. Natürlich wäre das Vernehmen eines der erklingenden Stücke von Anfang bis Ende eher eine Ausnahme. Ungeachtet dessen, erscheint – Zufall oder nicht – die innere zeitliche Struktur des Kanals (das Aneinanderreihen kurzer Fragmente) solch einem angenommenen »Rhythmus« von Passantenströmen hier verdächtig angemessen.86

86
Beim Einsatz des Kanals z. B. in einem Restaurant, ist dies natürlich hinfällig.
Möglicherweise wird hier bereits auf subtile Weise die allgemeine Aufenthaltsdauer beeinflusst. Denn erst all jenen, die sich etwas länger im beschallten Raum aufhalten, erschließt sich – auch sinnlich – der monokulturelle Charakter dieser lieblosen Musikvermittlung. Erst nach einer Weile vermag die Beschallung (eher eine »Klassik light«) zur Metapher zu werden, welche auf akustischer Ebene die Machtverhältnisse des beschallten öffentlichen Raumes versinnbildlicht – in Anlehnung an Schafer: »Wer produziert den Klang, wer kann ihm nicht entrinnen?«87
87
Vgl. Kapitel 4.4.2.
Denn hier wird anschaulich das Prinzip der freien Selektion, das grundsätzlich unseren Umgang mit Medienmusik kennzeichnet, außer Kraft gesetzt und vermag so auch einen eingeschränkten Handlungsspielraum zu symbolisieren.88
88
Julian Johnson hat den oft bemühten Vergleich des Tonträger-Kaufs mit der Abgabe eines Stimmzettels bzw. die Auffassung des Hitparaden-Systems als Spiegelbild eines demokratischen Wahlsystems zu Recht kritisiert, weil diese Auffassung zwangsläufig zu einigen Paradoxa führt, und schlussendlich jeglichen Wert der musikalischen Kulturerzeugnisse auf den Warenwert der Tonträger reduziert. Vgl. Johnson (2002) 17–26. Wenn hier jedoch auf ein – demonstrativ ausgesetztes – Prinzip der freien Selektion von Medienmusik als Metapher (für eingeschränkte Handlungsfreiheit) verwiesen wird, ist dies insofern legitim, als das erklingende Produkt der Firma Muzak einen ähnlich flachen Charakter besitzt wie eben jene Kulturauffassung, die kulturelle Werte allein auf dem Marktplatz verortet.
Dies ist natürlich kein neues Phänomen, neu ist hier allein der Einsatzort, nämlich der vormals uneingeschränkt zugängliche und öffentliche Raum. So könnte man hier eine vorsichtige These ableiten, nämlich dass jegliche Beschallung vergleichbarer urbaner Räume (auch mit anderen feststehenden Musikgenres) die allgemeine Verweildauer in diesen Räumen tendenziell eher herabsetzt. Die spezifische Semantik des Genres »Klassik« ist Thema des nächsten Kapitels.

Bei der »flüchtigen« Rezeption wird die Musik wohl schlicht als netter Service der Verkehrsbetriebe begriffen. Eine Steigerung des subjektiven Sicherheitsempfindens


Erste Seite (i) Vorherige Seite (88)Nächste Seite (90) Letzte Seite (110)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 89 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum