In diesem hierarchisch angelegten Modell, welches Musikwahrnehmung im
Alltag vor allem als (facettenreichen) kognitiven Prozess begreift, dürfte es die
»klassische« Hintergrundmusik vom Hauptbahnhof kaum über die ersten beiden
Stadien hinaus bringen. Sie empfiehlt sich geradezu, eher als ein undifferenziertes
Klischee klassischer Musik (im weitesten Sinne) wahrgenommen zu werden. Allein
der »Fließbandcharakter« des »streams« vermag es, eine Individualisierung
der Wahrnehmung mit all den angeführten Merkmalen (Stufe 3) weitgehend
auszuschließen.
Während die meisten Fahrgäste und Passanten wohl jeweils höchstens 5 Minuten lang
die Musik am Bahnhof vernehmen – und das auch nur, wenn sie U-Bahnhof und
Bahnhofsvorplatz passieren – ist die Dauer der Wahrnehmung durch unerwünschte
»Randgruppen«, die sich am Bahnhof aufhalten mögen, erheblich länger. Im Folgenden
gilt es daher beim Diskutieren möglicher Wirkungsweisen, zwischen einer »flüchtigen«
und einer verlängerten Wahrnehmungssituation zu differenzieren.
Zunächst ist zu bemerken, dass die auf maximal 5 Minuten geschätzte »flüchtige«
Wahrnehmung in etwa mit der maximalen Dauer der Stücke des Classical-Kanals
korrespondiert. Natürlich wäre das Vernehmen eines der erklingenden Stücke von Anfang
bis Ende eher eine Ausnahme. Ungeachtet dessen, erscheint – Zufall oder nicht – die
innere zeitliche Struktur des Kanals (das Aneinanderreihen kurzer Fragmente)
solch einem angenommenen »Rhythmus« von Passantenströmen hier verdächtig
angemessen.86
Beim Einsatz des Kanals z. B. in einem Restaurant, ist dies natürlich hinfällig.
|
Möglicherweise wird hier bereits auf subtile Weise die allgemeine Aufenthaltsdauer
beeinflusst. Denn erst all jenen, die sich etwas länger im beschallten Raum
aufhalten, erschließt sich – auch sinnlich – der monokulturelle Charakter dieser
lieblosen Musikvermittlung. Erst nach einer Weile vermag die Beschallung (eher
eine »Klassik light«) zur Metapher zu werden, welche auf akustischer Ebene
die Machtverhältnisse des beschallten öffentlichen Raumes versinnbildlicht –
in Anlehnung an Schafer: »Wer produziert den Klang, wer kann ihm nicht
entrinnen?«87
Denn hier wird anschaulich das Prinzip der freien Selektion, das grundsätzlich
unseren Umgang mit Medienmusik kennzeichnet, außer Kraft gesetzt
und vermag so auch einen eingeschränkten Handlungsspielraum zu
symbolisieren.88
Julian Johnson hat den oft bemühten Vergleich des Tonträger-Kaufs mit der Abgabe
eines Stimmzettels bzw. die Auffassung des Hitparaden-Systems als Spiegelbild eines
demokratischen Wahlsystems zu Recht kritisiert, weil diese Auffassung zwangsläufig
zu einigen Paradoxa führt, und schlussendlich jeglichen Wert der musikalischen
Kulturerzeugnisse auf den Warenwert der Tonträger reduziert. Vgl. Johnson (2002) 17–26.
Wenn hier jedoch auf ein – demonstrativ ausgesetztes – Prinzip der freien Selektion von
Medienmusik als Metapher (für eingeschränkte Handlungsfreiheit) verwiesen wird, ist dies
insofern legitim, als das erklingende Produkt der Firma Muzak einen ähnlich flachen
Charakter besitzt wie eben jene Kulturauffassung, die kulturelle Werte allein auf dem
Marktplatz verortet.
|
Dies ist natürlich kein neues Phänomen, neu ist hier allein der Einsatzort, nämlich der
vormals uneingeschränkt zugängliche und öffentliche Raum. So könnte man hier eine
vorsichtige These ableiten, nämlich dass jegliche Beschallung vergleichbarer urbaner
Räume (auch mit anderen feststehenden Musikgenres) die allgemeine Verweildauer in
diesen Räumen tendenziell eher herabsetzt. Die spezifische Semantik des Genres
»Klassik« ist Thema des nächsten Kapitels.
Bei der »flüchtigen« Rezeption wird die Musik wohl schlicht als netter
Service der Verkehrsbetriebe begriffen. Eine Steigerung des subjektiven
Sicherheitsempfindens
|