- 87 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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an historischen Musikepochen, in denen es eine massenmediale Verbreitung, eine mediale Verfügbarkeit von Musik noch nicht gab. Erklingende Musik war stets an Aufführungsorte gebunden. Es galt (in der Regel), sich Zeit für Musik zu nehmen. Bei der Produktion des »classical-streams« wird Musik genommen, um Zeit zu füllen. Die Dauer der einzelnen Klassik-Fragmente übersteigt kaum die Länge gängiger Popsongs. Mehr als die Hälfte der Stücke sind kürzer als vier, etwa drei Viertel sind kürzer als fünf Minuten. Dabei geht ihr mehr verloren als nur der Aufführungscharakter einer Konzertsituation. Der Musikgeschichte kommt hier letztlich die Rolle eines Klangarchivs zu. Werkskontext und Historizität81
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Gemeint ist hier Historizität, die über ein unbestimmtes klangästhetisches Klischee von »Klassik« gemäß dem erweiterten Klassik-Begriff hinausgeht.
des Erklingenden scheinen keine Bedeutung bei der Herstellung des »music-streams« zu besitzen. Der »stream« diktiert zwangsläufig eine geänderte Hörweise. Analytisch-strukturelle Rezeptionsstrategien werden allein schon durch die Eliminierung des Werkszusammenhangs durchkreuzt, die niedrige Lautstärke tut ihr Übriges.

Da sie sich bekanntlich nicht in den Vordergrund drängen soll, wird funktionelle Hintergrundmusik schon per definitionem nicht zum Zwecke des bewussten Zuhörens produziert. Daraus ließe sich weiter folgern: die Musik wird nicht für Hörerinnen und Hörer produziert, sondern vorrangig für die mit ihr berieselten Räume, wie am Beispiel Hamburger Hauptbahnhof besonders eklatant ersichtlich wird. Die Räume selbst sind die einzigen »Rezipienten«, die überhaupt einen nennenswerten Teil der Dauerberieselung vernehmen. Der rituelle Charakter oder (vielleicht besser) das rituelle »Potential« der Musik wird durch den veränderten Zeitbezug eliminiert. Durch die fehlenden Pausen bzw. – im Vergleich z. B. zu Klassik-Radio – das fehlende Programmschema, trägt auch die Vermittlungsweise des Kanals selbst keinerlei rituelle Züge.

Zwar wäre es hypothetisch denkbar, dass jemand die Angewohnheit entwickelt, sich zum Hachmannplatz zu begeben, um ein wenig der klassischen Musik zu lauschen. Hier wäre die Musik jedoch lediglich ein eher beliebiger Anlass, nicht wirklich Bestandteil eines Rituals, vergleichbar in etwa mit dem schönen Anblick der Alster, den man immer wieder bei Spaziergängen bewundern mag. Ein echtes Ritual könnte sich in Verbindung mit einer Dauerbeschallung z. B. dann entwickeln, wenn bekannt wäre, dass donnerstags in der Zeit zwischen 15 und 16 Uhr auf dem Classical-Kanal stets »Beethoven-Stunde« wäre. Dieses Gedankenexperiment ist natürlich hochgradig absurd, denn in Wirklichkeit plätschert die Musik in völliger Gleichgültigkeit vor sich hin. Würde sie selbst rituelles Verhalten evozieren, hätte sie – gemäß ihrer Zweckbestimmung – ihre Wirkung als Hintergrundmusik verfehlt. Hier ist sie lediglich »Musique d’Ameublement«.

6.2.2.  Der Classical-Kanal als Hintergrundmusik

Auf dieser Ebene wird aus dem funktionellen »music-stream« eine Hintergrundmusik, die aus den Lautsprechern am Hachmannplatz tönt. Zusammen mit den räumlichen bzw. raumschaffenden Effekten, werden die semiotischen Eigenschaften des Erklingenden zunächst bewusst ausgeklammert, um erst auf der nächsten Ebene diskutiert zu werden. Hier geht es um das Hören bzw. die Wahrnehmung


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