um solch eine Abhängigkeit zu
durchbrechen, als eine grobe Verharmlosung der Begleiterscheinungen körperlicher
Drogensucht. Trotzdem werden – unter Vorbehalt – in Kapitel 6.2.2 einige
Untersuchungsergebnisse der Rezeptionsforschung (unter Einbeziehung situativer
Variablen) diskutiert, die möglicherweise doch eine Wirksamkeit der Musikbeschallung –
bis zu einem gewissen Grade – erklären könnten. Doch zunächst geht es um eine
Vorüberlegung gänzlich anderer Natur, nämlich um den rituellen Charakter von
Musik.
6.1.4. Musik als Ritual
In den letzten Jahren ist die Präsenz des Begriffs »Ritual« in den Diskursen
unterschiedlicher Disziplinen, vor allem in der Theologie, Verhaltensforschung, in
den Geisteswissenschaften allgemein, aber auch in den Rechtswissenschaften,
gestiegen.46
Um den Problemen zu begegnen, die durch einen allzu inflationären Gebrauch des
Begriffs entstehen – man mag sich plötzlich von lauter Ritualen umgeben finden – macht
es Sinn, zwischen einem weit und einem eng gefassten Verständnis des Terminus zu
unterscheiden. Das insgesamt weite Begriffsfeld, das er abdeckt, wird auch ersichtlich
durch die vielen vermeintlichen Synonyme, z. B. Brauch, Gewohnheit, Konvention,
Routine, Ritus, Stereotyp und Zeremonie. So spricht man bereits von Ritualen (im Sinne
z. B. von Gewohnheit, Routine), um jegliche Handlungen mit Wiederholungscharakter
zu bezeichnen. Demgegenüber steht das enger gefasste Verständnis. Nach diesem kommt
Ritualen immer auch die Funktion zu, den Alltag zu transzendieren. In Bezug auf die
etymologischen Wurzeln des Terminus im Bereich von Kult- bzw. Religionshandlungen,
schlägt Wolfgang Gratzer eine Definition für einen enger gefassten Ritualbegriff
vor:
»Rituale sind demnach Handlungen, die
aufgrund ihrer Orts- und Zeitgebundenheit zu bestimmten Anlässen erwartet
bzw. vermisst werden können, und zwar nicht allgemein, sondern jeweils
von einer bestimmten Gruppe. Die ästhetische Auszeichnung besteht in der
Verknüpfung einzelner Handlungen zu geschlossenen, symbolisch deutbaren
Handlungssequenzen.«47
Gratzer knüpft damit direkt an die philosophische Symboltheorie nach
Susanne K. Langer bzw. Ernst Cassirer an, die auch einen gemeinsamen
Ursprung von Musik, Sprache und Tanz in archaischen rituellen Zeremonien
vermuten.48
Vgl. Langer (1992), Cassirer (1996). Vgl. dazu auch Combarieu, J.: La musique et la magie,
Paris 1909.
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Eine Herauslösung von Musik aus rituellen Zusammenhängen ist in der jüngeren
abendländischen Kultur auch auf semantischer Ebene erfolgt. In den meisten
außereuropäischen und alteuropäischen Kulturen gibt es kein Wort, welches synonym mit
dem Begriff »Musik« zu übersetzen wäre, stattdessen finden sich Bezeichnungen zu
Konglomeraten aus sprachlichen, gestischen und musikalischen Elementen, wie z. B. der
altgriechische Terminus »musiké«, der eine untrennbare Einheit von Dichtung und Musik
meint.49
Vgl. Blaukopf (1984) 19f.
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Dieter Schnebel macht darauf aufmerksam, dass ein vitales menschliches Bedürfnis nach
rituellen Handlungen (hier im weiteren Sinne) in den Spielhandlungen von Kindern
erkennbar ist (z. B. Abzählreime, Märchen, aber auch die
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