- 75 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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um solch eine Abhängigkeit zu durchbrechen, als eine grobe Verharmlosung der Begleiterscheinungen körperlicher Drogensucht. Trotzdem werden – unter Vorbehalt – in Kapitel 6.2.2 einige Untersuchungsergebnisse der Rezeptionsforschung (unter Einbeziehung situativer Variablen) diskutiert, die möglicherweise doch eine Wirksamkeit der Musikbeschallung – bis zu einem gewissen Grade – erklären könnten. Doch zunächst geht es um eine Vorüberlegung gänzlich anderer Natur, nämlich um den rituellen Charakter von Musik.

6.1.4.  Musik als Ritual

In den letzten Jahren ist die Präsenz des Begriffs »Ritual« in den Diskursen unterschiedlicher Disziplinen, vor allem in der Theologie, Verhaltensforschung, in den Geisteswissenschaften allgemein, aber auch in den Rechtswissenschaften, gestiegen.46

46
Vgl. Gratzer (1999) 43.
Um den Problemen zu begegnen, die durch einen allzu inflationären Gebrauch des Begriffs entstehen – man mag sich plötzlich von lauter Ritualen umgeben finden – macht es Sinn, zwischen einem weit und einem eng gefassten Verständnis des Terminus zu unterscheiden. Das insgesamt weite Begriffsfeld, das er abdeckt, wird auch ersichtlich durch die vielen vermeintlichen Synonyme, z. B. Brauch, Gewohnheit, Konvention, Routine, Ritus, Stereotyp und Zeremonie. So spricht man bereits von Ritualen (im Sinne z. B. von Gewohnheit, Routine), um jegliche Handlungen mit Wiederholungscharakter zu bezeichnen. Demgegenüber steht das enger gefasste Verständnis. Nach diesem kommt Ritualen immer auch die Funktion zu, den Alltag zu transzendieren. In Bezug auf die etymologischen Wurzeln des Terminus im Bereich von Kult- bzw. Religionshandlungen, schlägt Wolfgang Gratzer eine Definition für einen enger gefassten Ritualbegriff vor:

»Rituale sind demnach Handlungen, die aufgrund ihrer Orts- und Zeitgebundenheit zu bestimmten Anlässen erwartet bzw. vermisst werden können, und zwar nicht allgemein, sondern jeweils von einer bestimmten Gruppe. Die ästhetische Auszeichnung besteht in der Verknüpfung einzelner Handlungen zu geschlossenen, symbolisch deutbaren Handlungssequenzen.«47

47
Grater (1999) 43.

Gratzer knüpft damit direkt an die philosophische Symboltheorie nach Susanne K. Langer bzw. Ernst Cassirer an, die auch einen gemeinsamen Ursprung von Musik, Sprache und Tanz in archaischen rituellen Zeremonien vermuten.48

48
Vgl. Langer (1992), Cassirer (1996). Vgl. dazu auch Combarieu, J.: La musique et la magie, Paris 1909.
Eine Herauslösung von Musik aus rituellen Zusammenhängen ist in der jüngeren abendländischen Kultur auch auf semantischer Ebene erfolgt. In den meisten außereuropäischen und alteuropäischen Kulturen gibt es kein Wort, welches synonym mit dem Begriff »Musik« zu übersetzen wäre, stattdessen finden sich Bezeichnungen zu Konglomeraten aus sprachlichen, gestischen und musikalischen Elementen, wie z. B. der altgriechische Terminus »musiké«, der eine untrennbare Einheit von Dichtung und Musik meint.49
49
Vgl. Blaukopf (1984) 19f.
Dieter Schnebel macht darauf aufmerksam, dass ein vitales menschliches Bedürfnis nach rituellen Handlungen (hier im weiteren Sinne) in den Spielhandlungen von Kindern erkennbar ist (z. B. Abzählreime, Märchen, aber auch die

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