»Im Rahmen einer unterhaltenden audiovisuellen Musikrezeption können
im Gegensatz zu auditiven Musikdarbietungen in der Regel keine gängigen
soziodemografischen
Unterschiede (Schulbildung, Hörgewohnheiten oder musikalische Vorbildung)
bei der musikalischen Präferenzbildung jugendlicher Rezipienten beobachtet
werden.«43
Zwar handelt es sich bei der Beschallung am Hauptbahnhof nicht um eine audiovisuelle
Darbietung, doch erklingt die Musik hier in einem gänzlich ungewohnten Kontext, so
dass die Erkenntnisse der Präferenzforschung – meist ja das Abfragen der Einstellung
gegenüber verschiedenen Arten von Musik unter »Laborbedingungen« – kaum
übertragbar sein dürften. Überhaupt geht es bei einer Musikbeschallung als mögliches
Vertreibungsinstrument weniger um Präferenzen – es gibt ja keine Wahlmöglichkeit des
erklingenden Genres vor Ort – sondern vielmehr um Aversionen gegen das Gehörte. Viele
Untersuchungen44
Beispielsweise die bereits oben zitierte Umfrage des Instituts für Demoskopie/Allenbach in:
Motte-Haber (1996) 162.
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ergründen das (graduelle) Gefallen an unterschiedlichen Musikrichtungen (z. B.: »gefällt
mir sehr – gefällt mir weniger – gefällt mir gar nicht«). Um Aufschluss über mögliche
Aversionen gegen bestimmte Arten von Musik zu erhalten, genügt es nicht, diese
Ergebnisse einfach zu spiegeln. Für eine echte »Aversions-Forschung« wäre es
erforderlich, nicht das graduelle Gefallen zu messen, sondern eine graduelle Ablehnung
von Musik (wie z. B.: »missfällt mir sehr – missfällt wir weniger – missfällt mir gar
nicht«). Selbst solch ein (hypothetisches) Forschungsdesign wäre immer noch von
geringer Aussagekraft für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, wenn es nicht
auch situative Faktoren berücksichtigen würde. Alle Versuche, die Wirksamkeit
einer Klassik-Beschallung als Vertreibungsinstrument gegenüber Junkies allein
mit den bekannten Ergebnissen aus der Musikpräferenzforschung (bzw. mit
soziodemografischen Variablen) zu begründen, vernachlässigen auch die Ursache
für den Aufenthalt der Drogensüchtigen auf dem Bahnhofsvorplatz. Es sollte
nicht vergessen werden, dass sich die Junkies dort nicht etwa aus Langeweile
aufhielten, sondern dass es dort – an einem Umschlagplatz für »harte« Drogen
(Crack, Heroin) – in erster Linie darum ging, die Bedürfnisse einer körperlichen
Drogenabhängigkeit zu befriedigen. Der Sozialpädagoge Jürgen Meyer hat bei
»Straßenkindern« häufig eine regelrechte Abhängigkeit vom Bahnhofsumfeld selbst
festgestellt:
»Immer wieder erzählen Jugendliche davon, daß der Bahnhof und sein Milieu,
wie eine Droge bei ihnen wirke, von der sie sich nicht losmachen könnten,
und zu der sie immer wieder zurückkehren. Zwischendurch unterziehen sie
sich regelrechten ›Entziehungskuren‹ und berichten dann ganz stolz, daß
sie z. B. ›...schon eine ganze Woche nicht mehr am Bahnhof gewesen
sind.«45
Meyer, Jürgen: Kurzbeschreibung der Arbeit mit dem Beratungsbus des
Gesundheitsamtes Köln, Köln 1993, 2, zit. nach: Pfennig (1996) 18.
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Dass auch die Junkies vom Hauptbahnhof auf eine ähnliche Weise abhängig waren vom
Bahnhofsumfeld selbst (als »Marktplatz« für harte Drogen), ist sehr wahrscheinlich. Mit
jeglichen (angenommenen) Aversionen gegenüber klassischer Musik hätte immer auch die
Abhängigkeit vom Umschlagplatz selbst konkurrieren müssen. So erscheint allein die
Annahme, dass eine Musikbeschallung ausreichen könnte,
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