- 74 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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»Im Rahmen einer unterhaltenden audiovisuellen Musikrezeption können im Gegensatz zu auditiven Musikdarbietungen in der Regel keine gängigen soziodemografischen Unterschiede (Schulbildung, Hörgewohnheiten oder musikalische Vorbildung) bei der musikalischen Präferenzbildung jugendlicher Rezipienten beobachtet werden.«43

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Keuchel (2000) 240.

Zwar handelt es sich bei der Beschallung am Hauptbahnhof nicht um eine audiovisuelle Darbietung, doch erklingt die Musik hier in einem gänzlich ungewohnten Kontext, so dass die Erkenntnisse der Präferenzforschung – meist ja das Abfragen der Einstellung gegenüber verschiedenen Arten von Musik unter »Laborbedingungen« – kaum übertragbar sein dürften. Überhaupt geht es bei einer Musikbeschallung als mögliches Vertreibungsinstrument weniger um Präferenzen – es gibt ja keine Wahlmöglichkeit des erklingenden Genres vor Ort – sondern vielmehr um Aversionen gegen das Gehörte. Viele Untersuchungen44

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Beispielsweise die bereits oben zitierte Umfrage des Instituts für Demoskopie/Allenbach in: Motte-Haber (1996) 162.
ergründen das (graduelle) Gefallen an unterschiedlichen Musikrichtungen (z. B.: »gefällt mir sehr – gefällt mir weniger – gefällt mir gar nicht«). Um Aufschluss über mögliche Aversionen gegen bestimmte Arten von Musik zu erhalten, genügt es nicht, diese Ergebnisse einfach zu spiegeln. Für eine echte »Aversions-Forschung« wäre es erforderlich, nicht das graduelle Gefallen zu messen, sondern eine graduelle Ablehnung von Musik (wie z. B.: »missfällt mir sehr – missfällt wir weniger – missfällt mir gar nicht«). Selbst solch ein (hypothetisches) Forschungsdesign wäre immer noch von geringer Aussagekraft für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand, wenn es nicht auch situative Faktoren berücksichtigen würde. Alle Versuche, die Wirksamkeit einer Klassik-Beschallung als Vertreibungsinstrument gegenüber Junkies allein mit den bekannten Ergebnissen aus der Musikpräferenzforschung (bzw. mit soziodemografischen Variablen) zu begründen, vernachlässigen auch die Ursache für den Aufenthalt der Drogensüchtigen auf dem Bahnhofsvorplatz. Es sollte nicht vergessen werden, dass sich die Junkies dort nicht etwa aus Langeweile aufhielten, sondern dass es dort – an einem Umschlagplatz für »harte« Drogen (Crack, Heroin) – in erster Linie darum ging, die Bedürfnisse einer körperlichen Drogenabhängigkeit zu befriedigen. Der Sozialpädagoge Jürgen Meyer hat bei »Straßenkindern« häufig eine regelrechte Abhängigkeit vom Bahnhofsumfeld selbst festgestellt:

»Immer wieder erzählen Jugendliche davon, daß der Bahnhof und sein Milieu, wie eine Droge bei ihnen wirke, von der sie sich nicht losmachen könnten, und zu der sie immer wieder zurückkehren. Zwischendurch unterziehen sie sich regelrechten ›Entziehungskuren‹ und berichten dann ganz stolz, daß sie z. B. ›...schon eine ganze Woche nicht mehr am Bahnhof gewesen sind.«45

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Meyer, Jürgen: Kurzbeschreibung der Arbeit mit dem Beratungsbus des Gesundheitsamtes Köln, Köln 1993, 2, zit. nach: Pfennig (1996) 18.

Dass auch die Junkies vom Hauptbahnhof auf eine ähnliche Weise abhängig waren vom Bahnhofsumfeld selbst (als »Marktplatz« für harte Drogen), ist sehr wahrscheinlich. Mit jeglichen (angenommenen) Aversionen gegenüber klassischer Musik hätte immer auch die Abhängigkeit vom Umschlagplatz selbst konkurrieren müssen. So erscheint allein die Annahme, dass eine Musikbeschallung ausreichen könnte,


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