- 72 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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reproduzierter Musik. Aber es gibt auch Beispiele für frühe Arbeiten, die nicht auf Grundlage naturwissenschaftlicher Experimente entstanden sind. So präsentiert z. B. Theodor Billroth mit »Wer ist musikalisch?« (1895) eine Art phänomenologisch orientierte Theorie der Musikrezeption. Einen evolutionären Ansatz mit Bezug auf Darwins »Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen beim Menschen« (1862 in dt. Übersetzung) verfolgte Friedrich v. Hausegger mit seinem Buch »Die Musik als Ausdruck« (1887).33
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Vgl. Gembris (1999) 26.
In den jüngeren Ansätzen, vor allem in jenen der angloamerikanischen Literatur, erkennt Gembris eine Dominanz kognitivistischer Ansätze.

»Damit verbunden ist eine stark ausgeprägte Einseitigkeit sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer Hinsicht. Musikrezeption wird dabei als ein Prozeß der Informationsverarbeitung und -speicherung gesehen, der ausschließlich experimentell zu untersuchen ist.«34

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Gembris (1999) 29.

Die Präferenzen und Einstellungen gegenüber klassischer Musik sind hinlänglich erforscht worden. Viele Ergebnisse (unter Verwendung diverser Methoden) entsprechen durchaus den geläufigen, allgemein bekannten Klischeevorstellungen, die bereits in Kapitel 6.2.1 (in Bezug auf das Kaufverhalten am Tonträgermarkt) angedeutet worden sind. Die wohl bekannteste und umfassendste Untersuchung stammt vom Soziologen Pierre Bourdieu. In seinem Hauptwerk »Die feinen Unterschiede« analysiert er die Entstehung und Entwicklung klassenspezifischer kultureller Verhaltensweisen.35

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Vgl. Bourdieu (1982).
Seine Analyse basiert auf empirischen Daten, die in den 1960er Jahren in Frankreich erhoben wurden, und macht deutlich (wie auch zahlreiche andere Untersuchungen36
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Überblick zu verschiedenen Untersuchungen bei Bontinck (1997) 90–93, Behne (1997) 340–343, Motte-Haber (1996) 161–165.
): Klassik tendenziell ist die Musik der gehobenen sozialen Schichten.37
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Bourdieu spricht vor dem Hintergrund der marxistischer Kulturtheorie von »Klassen«.
Das Korrelieren von Präferenzen für klassische Musik mit den Variablen Alter, Einkommen, Bildung und Sozialstatus erscheint also erwiesen. Demnach entspricht der idealtypische Klassik-Hörer ziemlich genau dem Stereotypen der Serienfigur des Dr. Dressler aus der ARD-Serie »Lindenstraße«. Möglicherweise haben sogar Klischeevorstellung von Klassik und ihren Hörern stillschweigend eine Rolle gespielt bei der Entscheidung für das Einrichten der Musikberieselung. Und doch taugen die Erkenntnisse der Präferenzforschung für sich allein genommen wenig, um Rückschlüsse auf die Akzeptanz der Beschallung am Hauptbahnhof Hamburg zuzulassen bzw. die Wirkung als akustisches Vertreibungsinstrument zu erklären. Das hat vielerlei Gründe. Zunächst einmal sind die Methoden der Präferenzforschung nicht unproblematisch. Dies zeigt sich vor allem an zwei Punkten:

  1. Erhebungsweise der Angaben. Ermittelt werden die Präferenzen entweder durch Fragebögen mit gängigen kategorialen Genrebezeichnungen (Problem: Verallgemeinerung) oder – wie beim sog. »Klingenden Fragebogen« durch »typische« Musikbeispiele (Problem: Repräsentativität der Beispiele).38
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    Vgl. Behne (1997) 342f.

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