- 70 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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und jenen, die ihn »in der Musik finden«.24
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Vgl. Rösing/Bruhn (1997) 130f.
Die erste Gruppe wird noch beherrscht von Motte-Habers »Geschmacksurteilen«. Die zweite Gruppe fällt rationale Urteile, denn nichts anderes bedeutet es, »Geschmack in der Musik zu finden«: das Gehörte wird in Beziehung gesetzt zu einem bestehenden ästhetischen System. Die Aufwertung rational begründbarer ästhetischer Urteile (seit Ende des 18. Jahrhunderts) geschieht nach Motte-Haber auf Kosten der Geschmacksurteile, denn sie »entwertet den Geschmack als untrügliche Instanz für das Schöne«.25
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Motte-Haber (1996) 151.
Überall dort, wo die bürgerliche Grundidee einer Gleichheit unter Gleichen waltet, verortet Motte-Haber die Regentschaft der Kunsturteile. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Geschmack an Bedeutung verloren hätte. Denn gerade die von der bürgerlichen Gesellschaft vollzogene Trennung zwischen öffentlichem und privatem Leben schuf mit letzterem Schutzzonen. Diese abgeschotteten Biotope der persönlichen Vorlieben waren »dem öffentlichen Disput« und somit jeglicher Kritik entzogen. Letztendlich ist der Unterschied zwischen Sach- und Geschmacksurteilen über Musik nach Motte-Haber nur ein gradueller. So könne ohne Subjektivität keine Urteilsfindung zustande kommen. Werde dieser noch eine reflektierende Begründung vorangestellt, so zeuge dies lediglich von einem mehr oder weniger elaborierten Beurteilungssystem. »Das Wertsystem, gleichgültig ob es nur implizit im Urteil gegeben oder als Theorie ausformuliert ist, fundiert das Sachurteil tief im Emotionalen.«26
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Ebd. 152.
Diese Erkenntnis steht nur scheinbar im Widerspruch zu den Ergebnissen der oben zitierten Befragung. So provozierte die »hochoffizielle« Befragungsweise Haselauers in diesen Termini das Abgeben eines Kunsturteils und dies in einer Situation, in der die Befragten sich nicht nur der »privaten Schutzzone« beraubt sahen, sondern durch Kamera und Mikrofon sogar eine »mediale Potenzierung« von Öffentlichkeit befürchten mussten, verbunden mit einem möglichen Prestigeverlust. Entscheidend scheinen also die Umstände zu sein, aus denen heraus ein Urteil gefällt wird.

Wurzelt der die Überlegungen einleitende »gesellschaftliche Konsens« zur klassischen Musik also auf Kunsturteilen? Das scheint bereits die Kategorie »klassisch« mit ihren Konnotationen von zeitloser Gültigkeit und Normgebung zu suggerieren. Unsere gegenwärtige Praxis des Musikhörens ist gekennzeichnet von einer Unzahl von verschiedenen Aneignungsstrategien. Dabei erfüllt eine vormals nicht gekannte Fülle von musikalischen Genres und Spielarten in unterschiedlichen Situationen eine Vielzahl verschiedener Funktionen. Adorno schreibt in seiner »Einführung in die Musiksoziologie«:

»Die Frage nach dem Verhältnis der öffentlichen Meinung zur Musik überschneidet sich mit der nach ihrer Funktion in der gegenwärtigen Gesellschaft. Was über Musik gedacht, gesprochen, geschrieben wird, was Menschen ausdrücklich über sie meinen, differiert wohl vielfach von ihrer realen Funktion, dem, was sie im Leben der Menschen, ihrem Bewusstsein und Unterbewusstsein, tatsächlich leistet.«27

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Adorno (1968) 149.

Und doch ist die Idee eines Konsens gegenüber »klassischer Musik« nicht eine gänzlich irrationale: sie ist recht deutlich manifestiert in der Mittelverteilung im Bereich


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