»Ausgangspunkt für den Einsatz des
Musikhörens in der Therapie war die Vorstellung, daß Musikstücke ähnlich wie
Medikamente gezielt zur Behandlung von psychischen und physischen Störungen
eingesetzt werden könnten. (. . . ) Diese Vorstellung ist heute als widerlegt
anzusehen.«89
Bruhn/Frank-Bleckwedel (1997) 412.
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Der Einsatz von Musik in der rezeptiven Therapie (dort, wo sie noch angewendet wird) fällt
um einiges differenzierter aus, orientiert sich meist gezielt an den musikalischen Vorlieben der
Patienten.90
Ein Überblick zu den heute noch relevanten Einsatzbereichen (vor allem in der Anästhesie,
Schmerztherapie oder in den Konzepten nach Christoph Schwabe oder Decker-Voigt) findet
sich z. B. bei Bruhn/Frank-Bleckwedel (1997) 413–417.
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Habitualisierung durch funktionelle Musik und damit (möglicherweise) eine
Abstumpfung des Musikerlebens an sich, ist nur eine der negativen Implikationen, die
der Berieselungsmusik auf gesellschaftlicher Ebene zugeschrieben werden. Ein
weiterer häufig geäußerter Kritikpunkt besteht in der manipulativen Wirkung und
dem damit verbundenen Ablenken von sozialen Realitäten, beispielsweise bei
Liedtke:
»Die meisten Menschen fügen sich der musikalischen Dauerbeschallung,
akzeptieren die akustische Glocke als unabwendbares Übel, verdrängen sie
vielleicht und begeben sich mit dieser Gedankenlosigkeit in die Abhängigkeit
derer, die sie manipulieren wollen und können. Die fremdbestimmte
Dauerberieselung stumpft immer mehr ab, verkleistert das Hirn für politische,
gesellschaftliche und kulturelle Sensibilität, macht immer unkritischer und
blind
systemkonform.«91
Liedtke knüpft damit an die Kritik Adornos in dessen Einführung in die Musiksoziologie
an, die sich nicht nur gegen funktionelle Musik richtet, sondern allgemeiner gegen eine
Ideologie behaftete Funktionalisierung des zeitgenössischen Umgangs mit Musik an sich.
Gerade der Einsatz klassischer Musik als Hintergrundbeschallung eines seit Jahren
für eine offene Drogenszene berüchtigten öffentlichen Platzes, wirkt auf den
ersten Blick wie ein Musterbeispiel dessen, was er schriftlich erstmals 1962
formulierte:
»Zu entfalten wäre, wodurch Musik Ideologie sein kann: durch Erzeugung
falschen Bewußtseins, durch verklärende Ablenkung vom banalen Dasein,
durch
dessen Verdopplung, die es erst recht befestigt, und vorweg durch abstrakte
Affirmation.«92
Demnach kompensiert die Musik nicht nur die Defizite einer entfremdeten Gesellschaft, sie
bildet gleichzeitig einen ideologischen Kitt, der die bestehenden Verhältnisse zusammenhält,
indem sie, wie ein Großteil der zeitgenössischen Kultur dazu dient, »die Menschen daran
zu hindern, über sich und ihre Welt nachzudenken, und ihnen zugleich vorzutäuschen,
um jene Welt sei es richtig bestellt, da sie eine solche Abundanz von Erfreulichem
gewährt.«93
Zu fragen wäre jedoch, wie sehr sich solch ein attestiertes ideologisches Affirmationspotential
mit den (oben beschriebenen) angenommenen Habitualisierungserscheinungen verträgt.
Polemisch gefragt: Ist ein »verkleistertes Hirn« (Lietdke) überhaupt noch in
der Lage, ein »falsches Bewusstsein« (Adorno) zu entwickeln, wenn ihm durch
»Abstumpfung«
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