- 47 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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»Ausgangspunkt für den Einsatz des Musikhörens in der Therapie war die Vorstellung, daß Musikstücke ähnlich wie Medikamente gezielt zur Behandlung von psychischen und physischen Störungen eingesetzt werden könnten. (. . . ) Diese Vorstellung ist heute als widerlegt anzusehen.«89
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Bruhn/Frank-Bleckwedel (1997) 412.
Der Einsatz von Musik in der rezeptiven Therapie (dort, wo sie noch angewendet wird) fällt um einiges differenzierter aus, orientiert sich meist gezielt an den musikalischen Vorlieben der Patienten.90
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Ein Überblick zu den heute noch relevanten Einsatzbereichen (vor allem in der Anästhesie, Schmerztherapie oder in den Konzepten nach Christoph Schwabe oder Decker-Voigt) findet sich z. B. bei Bruhn/Frank-Bleckwedel (1997) 413–417.
Habitualisierung durch funktionelle Musik und damit (möglicherweise) eine Abstumpfung des Musikerlebens an sich, ist nur eine der negativen Implikationen, die der Berieselungsmusik auf gesellschaftlicher Ebene zugeschrieben werden. Ein weiterer häufig geäußerter Kritikpunkt besteht in der manipulativen Wirkung und dem damit verbundenen Ablenken von sozialen Realitäten, beispielsweise bei Liedtke:

»Die meisten Menschen fügen sich der musikalischen Dauerbeschallung, akzeptieren die akustische Glocke als unabwendbares Übel, verdrängen sie vielleicht und begeben sich mit dieser Gedankenlosigkeit in die Abhängigkeit derer, die sie manipulieren wollen und können. Die fremdbestimmte Dauerberieselung stumpft immer mehr ab, verkleistert das Hirn für politische, gesellschaftliche und kulturelle Sensibilität, macht immer unkritischer und blind systemkonform.«91

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Liedtke (1988) 232.

Liedtke knüpft damit an die Kritik Adornos in dessen Einführung in die Musiksoziologie an, die sich nicht nur gegen funktionelle Musik richtet, sondern allgemeiner gegen eine Ideologie behaftete Funktionalisierung des zeitgenössischen Umgangs mit Musik an sich. Gerade der Einsatz klassischer Musik als Hintergrundbeschallung eines seit Jahren für eine offene Drogenszene berüchtigten öffentlichen Platzes, wirkt auf den ersten Blick wie ein Musterbeispiel dessen, was er schriftlich erstmals 1962 formulierte:

»Zu entfalten wäre, wodurch Musik Ideologie sein kann: durch Erzeugung falschen Bewußtseins, durch verklärende Ablenkung vom banalen Dasein, durch dessen Verdopplung, die es erst recht befestigt, und vorweg durch abstrakte Affirmation.«92

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Adorno (1968) 239.

Demnach kompensiert die Musik nicht nur die Defizite einer entfremdeten Gesellschaft, sie bildet gleichzeitig einen ideologischen Kitt, der die bestehenden Verhältnisse zusammenhält, indem sie, wie ein Großteil der zeitgenössischen Kultur dazu dient, »die Menschen daran zu hindern, über sich und ihre Welt nachzudenken, und ihnen zugleich vorzutäuschen, um jene Welt sei es richtig bestellt, da sie eine solche Abundanz von Erfreulichem gewährt.«93

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Adorno (1968) 1952.
Zu fragen wäre jedoch, wie sehr sich solch ein attestiertes ideologisches Affirmationspotential mit den (oben beschriebenen) angenommenen Habitualisierungserscheinungen verträgt. Polemisch gefragt: Ist ein »verkleistertes Hirn« (Lietdke) überhaupt noch in der Lage, ein »falsches Bewusstsein« (Adorno) zu entwickeln, wenn ihm durch »Abstumpfung«

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