Obdachlosen galten. Bald entstand der Verdacht, hier werde »Klassik gegen
Junkies«4
Titel eines Artikels aus der Süddeutschen Zeitung vom 19.10.1999, Seite 16. Vgl. auch Krieger
(1999).
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eingesetzt. Europäische artifizielle Musik, wie sie üblicherweise in Konzertsälen
erklingt, würde am Hauptbahnhof demnach instrumentalisiert als Mittel zur
Vertreibung unliebsamer Personen. Obwohl zur Zeit immer mehr U-Bahn-Stationen
in Hamburg mit Klassik beschallt werden, konzentriert sich diese Arbeit
vorrangig auf die beschallten Bereiche am Vorplatz des Hauptbahnhofs.
Denn inzwischen ist hier keine offene Drogenszene mehr präsent, sie gilt als
»aufgelöst«.5
So scheint es offensichtlich möglich, die Beschallung als gelungenes empirisches
»alltagsmusikpsychologisches« Experiment zu deuten, welches möglicherweise
zum Einsatz klassischer Musik an ähnlichen Orten ermutigen mag. Das ist der
Ausgangspunkt dieser kulturwissenschaftlichen Untersuchung.
Ein Anliegen dieser Arbeit ist zunächst, einige »Störvariablen« aufzuzeigen, die eine
Aussage über die Wirksamkeit der Klassik-Beschallung am Hamburger Hauptbahnhof
höchst zweifelhaft erscheinen lassen müssen. Deutlich wird dies bereits durch die
Rechercheergebnisse zu den allgemeinen Umständen der Musikbeschallung (Kapitel 2
u. 3). Hier zeigt sich, dass die Musikbeschallung auf Teilen des öffentlichen
Bahnhofsvorplatzes auch ein Privatisierungsphänomen ist, dies sogar in doppelter
Hinsicht: Nicht nur erfolgt die Gestaltung der Musikbeschallung hier (seit Sommer 2002)
durch die Firma Muzak, auch wurde der Deutschen Bahn AG durch die Stadt Hamburg
ein Sondernutzungsrecht für den öffentlichen Bahnhofsvorplatz eingeräumt, welches
überdies den rechtlichen Rahmen für das Abspielen von Musik in diesem Bereich
bildet. So finden in Kapitel 3 auch einige rechtliche Aspekte im Zusammenhang
mit der Zugänglichkeit von Bahnhöfen Erwähnung, darüber hinaus wird kurz
auf die alltäglichen Kontrollmechanismen eingegangen, die am Hbf Hamburg
wirksam sind (Kapitel 3.3). Dies ist nötig, um die Musikbeschallung – die ja
ihrerseits unter Verdacht steht, Kontrollfunktionen auszuüben – hier nicht als ein
isoliertes Phänomen zu begreifen, denn das ist sie de facto auch in der Praxis
nicht. In Kapitel 3.4 geht es um einige künstlerisch bzw. politisch motivierte
Aktionen am Hamburger Hauptbahnhof. In Kapitel 4 wird der vorliegende
Untersuchungsgegenstand – auch terminologisch – zum gegenwärtigen Forschungsstand
bez. anderer Musikberieselungsphänomene in Beziehung gesetzt, insbesondere zur Musik
in der Arbeitswelt und zur Kaufhausmusik. Die »funktionelle Musik« erfährt in den
Musikwissenschaften als wenig geliebtes »Stiefkind« oftmals eine Abwertung gegenüber
der »autonomen Musik« (Kapitel 4.1). Eine Art »Subtext« des Kapitels bildet hier die
Frage, in welchem Maße der Begriff »Funktionalität« überhaupt noch als zeitgemäße
Kategorie zur Strukturierung gängiger Musikvermittlungs- und Aneignungsweisen
sinnvoll sein kann.
Klassik vertreibt Junkies, Klassik steigert die Milchproduktion bei Kühen, Klassik
lässt schmackhaftere Orangen heranreifen, Klassik macht unsere Kinder schlauer. Eine
Liste über all die wundersamen kolportierten Eigenschaften der historischen
europäischen Kunstmusik ließe sich vermutlich beliebig fortsetzen. Der sog.
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