- 65 -Klages, Thorsten: Medium und Form - Musik in den (Re- )Produktionsmedien 
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Michael Glasermeier kommentiert aus medientheoretischer Sicht, daß es Edison primär um die Erweiterung der Schriftkultur im phonetischen Bereich ging. Er hebt weiterhin für jene Frühzeit der Geschichte der mechanischen Aufzeichnungssysteme die unmittelbare Verbindung von Produktion und Reproduktion hervor:

»Dieser aktive, unmittelbare Vorgang beleuchtet das Wunderbare der Erfindung, gleichsam ein Unikat der unverwechselbaren Physiognomie einer individuellen Stimme herzustellen, das vergleichbar wäre mit dem handschriftlichen Dokument im Bereich der Schriftkultur.«14

14 Glasermeier (1989, S. 18).

Leistungsfähige Techniken zur Vervielfältigung der Tonträger gab es damals noch nicht, so daß jede Walze praktisch ein Original war. Bevor die Musikapparate das Publikum mit Arien und Chansons auf Jahrmärkten und in Wirtshäusern aber unterhalten konnten, war das Singen im Studio eine Tortur der gnadenlosen Wiederholung, die direkt an die Stückzahl der Phonographenwalze und der frühen Schallplatten gekoppelt war.15

15 Ebd.
Zu veritablen Massenmedien mutierten die mechanischen Schallaufzeichnungen erst später mit der Entwicklung brauchbarer Systeme zur Vervielfältigung. Die eigentlich auf Unterhaltung und Jahrmarkt abzielende Grammophonplatte Emil Berliners (patentiert am 26. September 1887) ›notierte‹ den Schall nicht, wie beim Phonographen, in Tiefenschrift, sondern in Seitenschrift. Dies erlaubte eine wesentlich geringere Umdrehungsgeschwindigkeit (78 statt 120 Umdrehungen pro Minute). Die Abtastnadel des Grammophones mußte nach jedem Abspielvorgang gewechselt werden, um eine Beschädigung der Platte zu verhindern. Anders als der Phonograph verfügte das Grammophon nicht über eine Aufnahmemöglichkeit. Das Patent Berliners konnte in den Folgejahren erfolgreich weiterentwickelt werden. Elridge Johnson konstruierte 1896 eine Art Uhrwerk, das die bisherige Handkurbel ersetzte und die Umlaufgeschwindigkeit des Plattentellers stabilisierte. Entscheidend für die Popularität des Grammphons war ein funktionierendes, mechanisches Verfahren zur massenweisen und kostengünstigen Vervielfältung der Schallplatten und damit auch der Musik. Dieses Verfahren war bereits im ersten Patent Berliners enthalten. Nach dem Vorbild des konventionellen Buchdruckverfahrens ließen sich damit nicht nur identische Kopien pressen, die anfälligen Zinkplatten konnten außerdem durch die erheblich widerstandsfähigeren Materialien Hartgummi und Schellack ersetzt werden. Zu den Wiedergabe- und allgemeinen ästhetischen Qualitäten des frühen Grammophons schreibt Thomas Mann, es war ein »armselige[s] Kurbelkästchen [...], das ehemals wohl Drehscheibe und Griffel obenauf, Anhängsel eines unförmigen Trompetenschalltrichters aus Messing [war], von einem Wirtshaustische herunter anspruchslose Ohren mit näselndem Gebrüll erfüllte.«16
16 Mann (1967, S. 673).
Bis zur Elektrifizierung der Aufzeichnungssysteme waren in den folgenden Jahren keine größeren Entwicklungssprünge mehr zu verzeichnen. Die Firma »Odeon« brachte 1904 in Berlin-Weißensee die erste doppelseitig bespielte Schallplatte heraus (Spielzeit ca. zwei Minuten pro Seite). Ungefähr zehn Jahre später konnte die Laufzeit auf ca. vier Minuten pro Seite verlängert werden. Der starre Schneidestichel Berliners wurde durch eine schwingende Nadel ersetzt und Berliners Verfahren zur Vervielfältigung konnte technisch verbessert werden. Für die

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