- 80 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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spielerisch anlegen. Mit dem Ziel größtmöglicher organischer Bewegungsabläufe, die der Betreffende mühelos, fast instinktiv einzusetzen vermag, sind alle Dirigierfiguren in allen denkbaren Variationen ihrer Parameter (Tempo, Agogik, Dynamik, Artikulation, Ästhetik) während der Ausbildungszeit kontinuierlich ohne Notenvorlage, eher mit Spiegel- oder Videokontrolle im Bereich der musikalischen Improvisation zu üben. Wichtig ist hier das Gespräch: die Selbsteinschätzung, das Körpergefühl des Dirigierenden divergieren häufig vom Erkennen der aufmerksam beobachtenden Gruppe („noch größere Bewegungen?“ – „Ich gebe doch einen Impuls!“ – „Du hast dir selber einen Auftakt gegeben!“ etc.). Nicht selten erfährt der Studierende bereits an diesem Punkt eine Spiegelung seiner persönlichen Ausstrahlung, seines plastischen Darstellungstalentes und eine vorsichtige, noch etwas verdeckte Charakterisierung seiner Typologie. Oft macht sich dadurch Unbehagen breit, weshalb das Dirigieren, dem Singen vergleichbar, zuweilen als unfreiwillige Veröffentlichung des Innersten empfunden und gefürchtet wird. Das Rollenspiel, der Habitus des alltäglichen Auftretens ist in diesen Formen der persönlichen (Ent)-Äußerung meist eben nicht durchzuhalten. Hier ist der Lehrende besonders gefordert: Zum einen gilt es, der Gruppe das Gefühl des gemeinsamen Internen zu geben, um das Mit- und Aneinander-Arbeiten zu fördern, zum anderen bestimmt der Umgang mit der persönlichen Polarität jedes einzelnen den individuellen Ausbildungsfortschritt, der zwischen Distanz zur eigenen Gestik, um die Korrekturfähigeit zu schulen, und einer Verinnerlichung optimaler (= bestmöglicher) Bewegungsabläufe pendeln muß.



3. Die Gruppensituation – „du dirigierst“


Das Tun des Dirigenten macht in all seinen Stationen nur Sinn mit Blick auf eine genau definierbare Zielgruppe. Der Generalmusikdirektor kennt die Besonderheiten seines Berufsorchesters, der Schulmusiker seine Schülerkapazitäten, der Laienorchesterdirigent seine oft jahrzehntelang mitwirkenden Instrumentalisten. Der Ensembleleiter ist Entscheidungsträger der jeweiligen Gruppe, für das Ergebnis ihrer Arbeit künstlerisch und oft auch organisatorisch verantwortlich. So ist er im Kreise seiner Instrumentalisten, die zudem ganz eigene Erwartungen haben, mit seiner Befindlichkeit auf sich gestellt. Die Ausbildungsphase bietet die einzigartige Konstellation, daß die Instrumentalisten ihrerseits die Ensembleleitung zu erlernen streben, also das Gegenüber am Dirigentenpult mit aufmerksameren, oft kritischeren, manchmal wohlwollenderen Augen sehen als die später zu Unterweisenden dies tun.


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