Gehalt der Musik
eine sprachliche Ab=bildung zu machen. Weil ich eine Geschichte erzählte:
die des eben gehörten Klangereignisses. Es muß nicht die von Orpheus
und den Furien sein, aber ausgeschlossen ist das auch nicht. Man meint, das
sei leicht und nur ein Grund, sich vor fachlichem Grundwissen herumzudrücken?
Zusammen mit meinen Studierenden bin ich vor wenigen Wochen an der Aufgabe
gescheitert, einem Laien klarzumachen, was die Idee einer Fuge sei ... die
Idee wohlgemerkt, nicht ihre etablierte Struktur. An solchen Stellen wird
mir dann schmerzlich bewußt, daß wir eine andere Form des musikanalytischen
Grundwissens noch gar nicht beherrschen: die der sprachlichen Gleichwertigkeit
zum musikalischen Kunstwerk. Will es so ausdrücken: das musikalische
Kunstwerk hat ein Recht darauf, von uns zu erwarten, daß wir jenes Medium,
in welchem wir uns täglich verständigen – die Sprache –
soweit entwickeln und so fein elaborieren, damit es dem Kunstcharakter von
Musik das Wasser reichen kann. Musikalische Analyse verlangt von uns, wenn
wir sie mit Gewinn für andere Menschen betreiben wollen, vor allem sprachliche
Kompetenz, Schärfung des Sensoriums und viel Mut zu einer wuchernden
Phantasie. Wer darüber verfügt, darf und sollte Geschichte erzählen:
die von Musik. Insofern stelle ich zum guten Ende mein Thema einfach auf den
Kopf und behaupte abschiednehmend: „Nur wenn wir Musikwissenschaftler
Geschichten-Erzähler werden, könnten wir gute Analytiker sein“.
Das verlangt wachsende Bescheidenheit und den Mut, sich vom Ballast der Fußnoten
und der wissenschaftlichen Verbal-Spreizfüße zu verabschieden.
Machen wir eine letzte Nagelprobe am Beispiel der „Vorstellung des Chaos“
aus Haydns Schöpfung:
Gott schuf die Welt, sie war wüst und leer ... sie hatte noch keine Form. Haydn schuf diese Einleitung zur Schöpfungsgeschichte ... sie hatte indessen keine Form. Keine Form?
Nicht wüst und nicht leer? Gewaltig fahren die Orchesterakzente drein, mit dynamischen Schocks und fahl-leisen Klängen treiben wir durch geheimnisvolle Klanglandschaften. Instrumentalfarben mischen sich bunt, teils grell, teils in Pastelltönen.
Nicht wüst und nicht leer? Mächtig ist der träge dahin treibende Klangstrom. Dissonanzengeschärft, stets in unaufgelöster Spannung gehalten, mit hohem hellen Streicherregister, das an Himmel denken läßt. Mit dunklen Baßfundamenten – eine graue Erde vielleicht. Eine Welt der Unordnung und der fehlenden Mitte: das sagen die vergeblichen Versuche, ein tonales Zentrum zu finden. Wir finden es nicht, wir stolpern durch fremde Tonarten-Gegenden, in denen wir uns nicht festhalten können: es fehlt das Geländer eines stützenden Metrums, eines leitenden Rhythmus. Eine Welt ohne lebende Wesen, denn noch ist die menschliche Stimme nicht geformt, noch fehlen Gesang und ruhiges Ein- und Ausatmen. Stoßweise schwer allerdings atmet das Orchester wie ein Organismus, der erst langsam zum Leben erweckt wird.
Nicht wüst und nicht leer? Nein, leer auf keinen Fall. Aber in wüstem Zustand ist diese Musik vom ersten bis zum letzten Takt. Kaum daß sich starre Klangflächen ausbreiten, brodelt Nebel nach oben. Kaum daß sich thematische Gestalten in Umrissen abzeichnen, haken sie sich fest, verstrüppen sie sich und landen verwirrt dort, wie sie gar nicht hin wollten. Eine Geburt unter großen Schmerzen: die zahllosen Vorhaltsspannungen und die ebenso zahlreichen Seufzer reden eine deutliche Sprache.
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