- 154 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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sprachlichen Mitteln nacherzählt werden. Zuweilen gelingt es dann, durch die (wie Nicolai Hartmann sagt) „Außenschicht“ durchzudringen, zur „Binnen-schicht“ zu gelangen, um dann sogar die „Tiefenschicht“ zu erreichen, wo ein tönendes Gebilde über sich hinausweist in den Bereich des Denkens, der Ideen, der Utopien. Ein letztes Beispiel. Ich moderiere wie folgt an:


Eine vollkommen abweisende Geste im Kollektiv der Streicher. Ein einstimmig vorgetragenes „Nein!, Wir wollen nicht!“. Eine Geste im alten Stil und mit barockem Pathos, imposant, majetätisch, schwerfüßig und dickleibig.


Dagegen plötzlich eine zarte Stimme auf dem Solo-Klavier: im schlichten Choralton, im hellen Register, eine einfache Form des leisen Singens und Bittens. Wer Ohren hat, der höre die angedeuteten sängerischen Floskeln aus der Belcanto-Schublade. Was wird gesungen? Wir wissen es nicht. Wie wird gesungen? Unschuldig, beinahe kindlich, mit großer Verhaltenheit, fast schüchtern.

Wieder dieses donnernde „Nein, kommt gar nicht in Frage!“ im Streicherkollektiv. Kopfschütteln, zonige Augenbrauen. Und neuerlich der jugendlich-naive Gesang des Solo-Klaviers, es scheint sich nicht beirren zu lassen mit seiner lieb daher gesagten Bitte. Ungeduldig, nun gereizt fallen die Nein-Sager ins Wort, müssen aber hören, wie die Bitten des Klaviers immer flehentlicher werden umso mehr, je zorniger das Kollektiv dreinfährt.


Doch dann dieses allmähliche Zurückweichen, die kollektiven Widersprüche werden immer zaghafter, immer nachdenklicher, bis sich die Nein-Sager zu ducken, zu kuschen scheinen und ... den Weg frei machen für eine nun ganz und gar befreit vorgetragene Klangrede auf dem Klavier, dazu die Streicher nur noch ein angedeutetes Pizzikato-Nicken beisteuern. Diese freie Klangrede nun: sie mündet in Augenblicke von höchster Erregung, von größter Wichtigkeit, von stärkster Emphase. Das zittert und bebt, als wolle sich eine lang angestaute Aufregung endlich befreien. Und die Nein-Sager? Jetzt sind sie fast vollkommen sprachlos, und nur von fern ahnt man noch etwas von der ursprünglichen schlechten Laune.


Wie die Sache ausgeht? Sie mündet in reinste Harmonie, in ein Bild des ungetrübten Friedens, in die Utopie einer restlosen Verständigung, wofür das Klavier sich mit einer Verbeugung von Chopinscher Eleganz bedankt.


Ein Mini-Drama auf kleinster Bühne. Orpheus trifft auf die Furien und besiegt sie mit seinem Weh und seinem Gesang. Rede und Gegenrede, die sich immer leidenschaftlicher miteinander verschränken. Ein musikalisch gezeichnetes Bild, wo Widersprüche ausgetragen, wo Konflikte entschärft werden, weil man die besseren Argumente erkennt und anerkennt. Ein musikalisch gezeichnetes Bild der Aufklärung, wo unterm Diktat der Vernunft und/oder der Liebe Widersprüche in Harmonie und Frieden sich verwandeln.


Eine Utopie? Nicht bei Beethoven, und an keiner Stelle will mir mehr einleuchten, was Ernst Bloch von der Musik einmal sagte: sie sei ein „Ruf ins Entbehrte“. Davon legt dieser musikalische Diskurs ein Zeugnis ab, und nichts würde den Gehalt der Musik mehr verfehlen, als wenn man glaubte, das sei ein romantisches Stimmungsbild mit schimmernden Kerzen und funkelndem Rotwein.


Ich wette, ich habe das Hören des Mittelsatzes aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 nicht nur leichter gemacht, ich könnte mir sogar vorstellen, daß man ihn jetzt auf Anhieb versteht. Und das, weil ich gegen fast alle Gebote einer herkömmlichen musikalischen Analyse verstoßen habe, weil ich mich traue, von den Gesten, den Gebärden, den Tonfällen, der Körperlichkeit und vor allem vom narrativen


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