- 153 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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Werken (ich sag mal: bei Schumanns Charakterstück-Miniaturen) ein poetisches Analogon zu schreiben als Versuch, über musikalische Poesie mit den Mitteln einer sprachlichen Poesie nachzudenken. Dazu braucht es freilich Vorüberlegungen. Meinen Studierenden habe ich sie kürzlich während eines Seminars in folgender Form empfohlen:


  • mache Dir Gedanken darüber, wie ein Stück anfängt

  • bestimme Anfang, Klimax und Ende

  • überlege Dir seinen „Erzählfluß“

  • achte auf den körperlichen Gestus

  • achte auf Tonfälle und Gebärden

  • versuche, ein Stück in seiner Körperlichkeit zu erfassen

  • finde den Wesenskern, forsche nach Schlüsselreizen

  • sage lieber „ich“ als „man“

  • traue Deine Ohren mehr als dem Notentext

  • fertige eine üppige Adjektivliste an

  • forme aus der Adjektivliste anschauliche Bilder


Das Adjektiv-Training hat sich bei entsprechenden Seminaren als Königsweg erwiesen. Es erweitert den sprachlichen Phantasiespielraum, es zwingt zur verbalen Genauigkeit, es hilft, die eigene Sensualität zu erkunden, es untermauert das Zutrauen zur persönlichen Anmutung und ... es versetzt mich, den Analytiker, zurück in den Zustand eines unbefangenen Laien, da ich mir ja selbst den schnellen Zugriff zur fachspezifischen Terminologie verbiete. Machen wir die Probe aufs Exempel mit dem Beginn des siebten Stücks aus Schumanns Davidsbündlertänzen op. 6:


Leise, verhalten, verlegen, zögerlich, tastend, suchend, zart, zurückhaltend, atemanhaltend, verschwiegen, intim, zärtlich, nächtlich, grübelnd, improvisierend, behutsam, neugierig erkundend, schwärmerisch, verträumt, ungeduldig, hartnäckig, bohrend, neu beginnend, rätselnd ... aus diesen primären Eindrücken formen sich Bilder: so sitzt einer am Klavier, hat eine vage Idee, arpeggiert quasi improvisando vor sich hin, geht der Idee im Zustand vollkommener Gelassenheit, aber mit leichter Neugier nach („Mal sehen, was sich draus machen läßt“). So sitzt einer am Klavier, der viel Zeit hat, vielleicht am späten Abend, hinter der Welt, in sich versunken, mit Klängen spielend, Klangräume auskostend, Klangräume erweiternd. Das Bild von Eusebius, dem Schwärmer, der zarten und behutsamen Seite von Schumanns widersprüchlichem Psychogramm. Und damit schreibt Schumann Musik im Entstehungszustand; Musik, die sich selber noch nicht recht traut, die allmählich zu sich findet wie eine vage Idee, die im Kopf und in der Seele umhergeistert. Musik, die noch nicht ist, die aber werden könnte. Musikalische Poesie, die mit verschlüsselten Bildern und Begriffen arbeitet wie ein Gedicht. Werde ich dem gerecht, wenn ich dessen Reimstruktur auszähle?


Man mag einwenden, das sei keine Analyse, das sei eine Paraphrase. Und ich würde antworten: richtig, genau das will ich! Denn Musik hat nun mal eine stark ausgeprägte narrative Komponente, also will ihre Narration belauscht und mit


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