- 151 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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Beispiele gefällig? Ich meine: ja, damit wir endlich vom Trockenen ins Wasser kommen. Um bei meiner letzten Behauptung anzuknüpfen: während vieler Seminare bei Fernsehanstalten, wo es um die Rolle der Musik bei der Filmgestaltung geht, habe ich manches Mal zu Schuberts Moment musical Nr. 2 As-Dur ein freies Hörprotokoll schreiben lassen und immer wieder die folgenden Konnotationen erfahren: Herbstlandschaft, graue Farben, Regen an Fensterscheiben, Einsamkeit, Abschied, Erinnerungen an alte Zeiten, Tränen, Kindheit etc. Man höre die ersten Takte: ein gleichförmiges Kernmotiv, es kommt nicht von der Stelle, es formuliert sich stockend, beinahe ratlos, es kreist um sich selbst, tritt auf der Stelle, kommt zum Ausgangspunkt zurück. Monotonie breitet sich aus. Hier könnten die Eindrücke von Einsamkeit verschlüsselt sein. Leise ist es, behutsam angedeutet; leise und behutsam wie Regen an Fensterscheiben. Die Herbstlandschaft? Keine Farben, sondern Monochromie, zaghafte Aufschwünge, aber viele kraftlose Abschwünge: so erleben wir Situationen des Abschieds. Einsamkeit? Das einsame Instrument Klavier vielleicht. Erinnerungen an alte Zeiten? Das Klavier war einmal Symbol des bürgerlichen Salons im 19, Jahrhundert. Kindheit? Dieses Moment musical ist ein schlicht vorgetragenes Lied, einem Schlaflied nicht unähnlich. Und dann dieses wehmütige Singen auf der Grundlage einer dahinströmenden Begleitfigur. In diesem Dahinströmen ist das Davonströmen von Zeit eingeschlossen; Gesang treibt vorbei wie auf einem grauen Flußbett. Kreisen und Fließen, Stauen und Strömen, Ratlosigkeit und befreites Singen – aber ein fallsüchtiges Singen mit mancherlei Seufzerfiguren und verhaltenen Schluchzern, dann zurück zur Ratlosigkeit des anfänglichen stoßweisen Atmens ... Fluß und stockender Gang, Farbe und Motiv, Ambitus und Instrument: alles schließt sich zu Eindrücken zusammen, die als persönliche Gestimmtheiten zielgenau auf den eigentlichen Notentext verweisen und damit auf die zutiefst analytische Frage: wie ist die kompositorische Konstruktion, auf daß solche Expression erfühlt werde?


Analyse muß sprachliche Phantasie entwickeln, die der eines musikalischen Kunstwerks angemessen sein müsse, so lautet meine durchgehende These. Analyse muß Bilder entwerfen, die der Bildlichkeit von Musik inhärent ist. Bilder stützen, sie machen das Unvorstellbare vorstellbar. Und sollten sie dem Leser/Hörer sympathisch sein, so setzen sie sich fest im sog. „affektiven Gedächtnis“, m. a. W. sie werden unvergeßlich. Zwei weitere Beispiele leihe ich mir bei Diether de la Motte aus. Man lese, wie schön er die Anfänge von Musik beschreibt. Und indem die Anfänge in Bilder bzw. in die Form von Ereignissen gefaßt werden, erfahren wir mit wenigen Worten die Idee von zwei sehr verschiedenen Stücken. Einen dieser Anfänge nennt de la Motte „Struktur“. Er schreibt:


Sieben Paare großer Terzen [...]. Das ganze fällt aus hoher Lage herunter und pendelt sich in tiefer Mittellage ein. Das ist doch noch nichts, das wird vom Hörer höchstens als Vorspiel zu etwas akzeptiert. Doppelstrich, aha, jetzt kommts. Aber es kommt nichts. Es bleibt bei den Terzen, nur laufen sie jetzt schneller ab und es gibt auch kleine Terzen. [...] Aber der Hörer beginnt


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