- 150 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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  1. Jede Musik hat physiognomische Qualitäten, hat einen mehr oder minder prägnant ausgebildeten Körper. Ihn kann man gleichsam abbilden, sozusagen portraitieren.

  2. Jede Musik teilt sich – wie es gute Pantomimen tun – durch Gebärden mit. Eine gute und hilfreiche Analyse muß also versuchen, den jeweiligen Gestus in adäquate Sprachbilder zu übersetzen.

  3. Jede Musik hat ihre Herkunft, ihre Vergangenheit, ihre Entstehungsumstände. Analyse kann nicht umhin, die Anamnese des Patienten mitzuteilen.

  4. Jede Musik durcheilt im Laufe ihres Daseins Lebensstationen. Analyse muß also Rezeptions- und Wirkungsgeschichte mitbedenken; da können zuweilen herbe Schicksalsschläge passieren, wie etwa Les Préludes von Franz Liszt zu berichten wissen oder der „Walkürenritt“ aus Wagners Ring.

  5. Jede Musik hat mehr oder weniger ausgeprägte Ähnlichkeiten mit menschlichen Mitteilungsformen: wir finden den Monolog, den Dialog, die Diskussion, das Streitgespräch, wir hören zuweilen, wie ein großes Kollektiv einmütig mit dem Kopf nickt und „Ja, ja, so ist es“ murmelt. Mit anderen Worten: gar manche Musik läßt sich als Szene vorstellen mit Rede und Gegenrede.

  6. Jede Musik hat einen Tonfall, der dem der menschlichen Sprache nicht unähnlich ist, zuweilen mit ihr gleichgesetzt werden kann. Eine gute Analyse hat die Ohren aufzumachen und auf diese Tonfälle zu lauschen. In den meisten Fällen der Instrumentalmusik handelt es sich um Lieder ohne Worte. Wer nur wie ein Buchhalter die Intervallstrukturen auszählt, wird sie allerdings nicht verstehen.

  7. Jede Musik besteht aus Ingredienzen, aus Grundstoffen, Zutaten, Gewürzen, manchmal liegt noch ein hübsches, aber unwichtiges Petersilienzweiglein drauf.

  8. Jede Musik hat Ähnlichkeiten mit menschlichen Artikulationsformen; sie äußern sich in verschiedenen Arten des Atmens und des Äußerns. Das reicht vom zögerlichen, gehemmten, noch ratlosen Stocken bis hin zum atemlosen Überschlag. Musik gibt es mit glatter und fester Rede, mit nachdenklichen, gar verlegenen Pausen, mit jähen Überschwängen und cholerischen Ausbrüchen. Kurz: sie hat mehr mit den galenischen Temperamenten zu tun, als wir das glauben möchten.

  9. Jede Musik ruft beim Hörer Assoziationen hervor, zaubert Bilder, Konnotationen, Filmszenen vor das innere Auge. In normalen Analysen sind solche Assoziationen verpönt, gelten als private Anwandlungen, als eben das Gegenteil des strukturellen Hörens. Erstaunlich aber ist, daß viele Hörer assoziative Eindrücke haben, die sich fundamental oft sehr ähnlich sind. Und noch erstaunlicher ist dann, daß man diese gefühligen Anwandlungen präzise auf den Ausdruck, die Form und die Struktur der Musik selbst zurückführen kann. Soll heißen: der vage emotionale Eindruck des ganz normalen Hörers ist analytischer, als man glauben möchte.



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