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Jede
Musik hat physiognomische Qualitäten, hat einen mehr oder minder
prägnant ausgebildeten Körper. Ihn kann man gleichsam abbilden,
sozusagen portraitieren.
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Jede
Musik teilt sich – wie es gute Pantomimen tun – durch Gebärden
mit. Eine gute und hilfreiche Analyse muß also versuchen, den jeweiligen
Gestus in adäquate Sprachbilder zu übersetzen.
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Jede
Musik hat ihre Herkunft, ihre Vergangenheit, ihre Entstehungsumstände.
Analyse kann nicht umhin, die Anamnese des Patienten mitzuteilen.
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Jede
Musik durcheilt im Laufe ihres Daseins Lebensstationen. Analyse muß
also Rezeptions- und Wirkungsgeschichte mitbedenken; da können zuweilen
herbe Schicksalsschläge passieren, wie etwa Les Préludes
von Franz Liszt zu berichten wissen oder der „Walkürenritt“
aus Wagners Ring.
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Jede
Musik hat mehr oder weniger ausgeprägte Ähnlichkeiten mit menschlichen
Mitteilungsformen: wir finden den Monolog, den Dialog, die Diskussion,
das Streitgespräch, wir hören zuweilen, wie ein großes
Kollektiv einmütig mit dem Kopf nickt und „Ja, ja, so ist es“
murmelt. Mit anderen Worten: gar manche Musik läßt sich als
Szene vorstellen mit Rede und Gegenrede.
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Jede
Musik hat einen Tonfall, der dem der menschlichen Sprache nicht unähnlich
ist, zuweilen mit ihr gleichgesetzt werden kann. Eine gute Analyse hat
die Ohren aufzumachen und auf diese Tonfälle zu lauschen. In den
meisten Fällen der Instrumentalmusik handelt es sich um Lieder ohne
Worte. Wer nur wie ein Buchhalter die Intervallstrukturen auszählt,
wird sie allerdings nicht verstehen.
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Jede
Musik besteht aus Ingredienzen, aus Grundstoffen, Zutaten, Gewürzen,
manchmal liegt noch ein hübsches, aber unwichtiges Petersilienzweiglein
drauf.
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Jede
Musik hat Ähnlichkeiten mit menschlichen Artikulationsformen; sie
äußern sich in verschiedenen Arten des Atmens und des Äußerns.
Das reicht vom zögerlichen, gehemmten, noch ratlosen Stocken bis
hin zum atemlosen Überschlag. Musik gibt es mit glatter und fester
Rede, mit nachdenklichen, gar verlegenen Pausen, mit jähen Überschwängen
und cholerischen Ausbrüchen. Kurz: sie hat mehr mit den galenischen
Temperamenten zu tun, als wir das glauben möchten.
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Jede
Musik ruft beim Hörer Assoziationen hervor, zaubert Bilder, Konnotationen,
Filmszenen vor das innere Auge. In normalen Analysen sind solche Assoziationen
verpönt, gelten als private Anwandlungen, als eben das Gegenteil
des strukturellen Hörens. Erstaunlich
aber ist, daß viele Hörer assoziative Eindrücke haben,
die sich fundamental oft sehr ähnlich sind. Und noch erstaunlicher
ist dann, daß man diese gefühligen Anwandlungen präzise
auf den Ausdruck, die Form und die Struktur der Musik selbst zurückführen
kann. Soll heißen: der vage emotionale Eindruck des ganz normalen
Hörers ist analytischer, als man glauben möchte.
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