- 149 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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meistens verengt, haben sich nur die Frageformen, nicht die Menschen selber.


Was will ich damit andeuten? Will sagen, daß unser analytischer Apparat, der in Laienohren so wissenschaftlich tönt, mit Wissenschaft nichts zu tun hat. Er ist der Schutzwall, hinter dem wir uns verkriechen, um uns den eigentlichen Phänomenen nicht ungeschützt stellen zu müssen. Unser Phänomen heißt Musik, und ich maße mir die Behauptung an, daß wir uns diesem besonderen Gegenstand nur dann halbwegs befriedigend nähern dürfen, sofern es uns gelingt, sprachliche Instrumente zu entwickeln, deren Phantasie der von Musik adäquat wäre. Kunst hört auf, Kunst zu sein, wenn es gelänge, sie mit Sprache 1:1 einzufangen. Kunst, nach Schelling von „erhabener Gleichgültigkeit“, erschließt sich im Dialog und mit der bangen Frage: „Was hast Du mit mir vor?“. Ich weiß, ich begebe mich damit auf ein uraltes Kriegsgelände, Hermeneutik genannt. Oder um ein Aperçu von Hans Magnus Enzensberger aufzugreifen: wer an die hermeneutische Pforte klopft, dem wird aufgetan. Entscheidend ist freilich, wer da klopft und mit welchen Erwartungen. Entscheidend ist zudem, welchen persönlichen Horizont er in diesen kreisenden Dialog mit dem Kunstwerk einbringt. Warum Analyse?, so die gestellte Frage an den Dirigenten Peter Gülke. Antwort: er analysiere Musik, die er liebe, um sie anschließend noch mehr zu lieben. So würde ich es auch sagen, aber dann ist immer noch die Frage nach der analytischen Methode, nach dem deutenden Zugriff offen. Ich bestreite rundheraus, daß technokratische Analyseformen, wie ich sie vorhin karikiert habe, auch nur annähernd musikalische Kunstwerke erschließen und sie weiteren Hörerkreisen vermitteln können. Bedenken wir: da ist so mancher, der diese oder jene Musik noch gar nicht liebt, weil er sie nicht kennt, erkennt, versteht.


Ich sagte: musikalische Analyse müsse Sprachformen finden, deren Phantasiereichtum dem der Musik angemessen wäre. Von Max Liebermann wird berichtet, jemand habe sich bei ihm beschwert: das Portrait, das Liebermann gemalt habe, sei ihm, dem Portraitierten, so gar nicht ähnlich. Darauf Liebermann: „Ich fürchte, dieses Portrait ist ihnen ähnlicher, als Sie glauben“. Will sagen: musikalische Analyse muß sich auf die Kunst des Portraitierens verstehen, muß die Lebendigkeit, die Körperlichkeit, die atmende Organik eines tönenden Kunstwerkes einfangen, ohne daß es dabei zu Beschädigungen, Verkürzungen, überflüssigen Abstraktionen kommt. Musikalische Analyse muß im Liebermannschen Sinne dem Stück ähnlich werden in Form einer sprachlichen Asymptote. Ich beeile mich, ein paar Vorschläge zu unterbreiten, möchte dieses aber noch vorwegschicken:


  1. Jede Musik erzählt in irgendeiner Form eine Geschichte; jede Musik hat per se narrative Eigenschaften. Sie, diese Geschichte, ist zu finden.


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