- 148 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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Wir sind seitdem 34 Jahre weiter. Und doch hat die Adornosche Arroganz so manches vergiftet, nicht zuletzt auch musikpädagogische Lehrpläne, in denen das Leitbild vom adäquaten Hören und vom vollbewußten, Form und Struktur spontan erfassenden Hörer jahrzehntelang umherspukte und zu methodischen Monstrositäten führte dergestalt, daß Musikunterricht analytischer Unterricht war, vollgestopft mit Formeln, Formen, Strukturen, Partiturlesen und Trainingseinheiten in Sachen Funktionsharmonie. In solchen Musikstunden wurde der noch atmende musikalische Körper bei lebendigem Leibe zerlegt, anatomisiert und seine Einzelteile dann in die pathologischen Kühlkammern, Klausuren genannt, geschoben. Indessen mag ich mich nicht weiter damit aufhalten, die Adornosche Elendsspur vollständig rückzuverfolgen, ich müßte mich andernfalls mit dem Vorwurf, ich betriebe ödipalen Vatermord, auseinandersetzen.


Mir sei stattdessen erlaubt, alternative Vorschläge zu machen bezüglich Formen und Methoden von musikalischen Analysen, die einerseits ihrem Gegenstand, andererseits ihrem Adressaten gerecht werden: der Musik hier, dem Hörer dort. Nachdenklich wurde ich vor Jahren bei der Lektüre von Neil Postmans Technopol, vor allem beim Kapitel „Szientismus“. Postman bestreitet rundheraus, daß alle Wissenschaften, die sich mit dem Menschen, mit seiner Anthropologie, seinen kreativen Kräften, seinem Verhalten, seinem Denken und Fühlen befassen, den Namen Wissenschaft verdienen. Wir, so Postman, fänden dort nichts Neues, wie man es von Wissenschaft im strengen Sinn erwarten dürfe, wir fänden immer nur die alten Geschichten. Was eine moderne Psychologie heute umständlich zu erklären sich anschicke, hätten intuitive Köpfe wie Sophokles, Dante, Macchiavelli, Lessing, Kleist, Fontane, Schnitzler bereits vollumfänglich auf den kritischen Begrif gebracht. In der Tat: ungeheuer weit voraus in die Welt der Sozialanalyse greift Büchners Woyzeck, und was Psychoanalyse ist, das erfahre ich in Wagners Ring des Nibelungen. Die begrenzte Reichweite menschlicher Tugenden – da kann ich Handbücher der Sozialpsychologie zur Hand nehmen, da kann ich mit gleichem Erkenntnisgewinn, aber mit größerem Erlebniswert, eine der grimmigsten, scharfsinnigsten Analysen auf der Opernbühne wahr=nehmen: in Mozarts Così fan tutte. Moderne Feminismusdebatten? Mit Mozarts La nozze di Figaro haben sie sich schon erledigt. Zeitgenössische Sexualethik bzw. Moraldiskussionen? Man kaufe sich eine Karte für Shakespeares Sommernachtstraum. Und worum es der Frankfurter Schule nebst ihrer Idee eines herrschaftsfreien Diskurses ging, findet sich vorformuliert in Schillers Maria Stuart und in Lessings Nathan der Weise. Sicher ist, daß wir es heute mit veränderten sozialen Rahmenbedingungen zu tun haben, mit einer Fernsehgesellschaft zum Beispiel und mit dem Verlust einer Lesekultur vor dem Computer. Sicher aber ist auch, daß wir die alten Geschichten unter Berücksichtigung der aktuellen Kontexte nur neu zu erzählen brauchen. Postman nennt deswegen die angeblichen Sozialwissenschaften „narrative Disziplinen“ selbst dann, wenn sie empirisch verfahren. Aber Empirie besteht im Grunde ja nur aus Befragungen von Menschen; geändert,


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