- 147 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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Symmetrieachse ist oder der Goldene Schnitt oder gar ein Algorithmus. Wir stehen, um mich in ein Bild zu flüchten, vor einer von Palladio konstruierten venezianischen Kirche, wir werden innen drin umfangen von ihrer ganz unverwechselbaren Besonderheit, wir erfahren indessen nichts anderes als die Rekonstruktion der Baupläne, die Grundrisse, wir sehen das strukturelle Skelett. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die verkürzte Reprise, die mediantische Akkordfortschreitung, die 16taktige Periode, der doppelte Kontrapunkt, die serielle Textur, der komplementäre Rhythmus, die Quint-Quart-Mixturen, der Passus duriusculus und der Kanon im Septabstand – solche Begriffe gehören zu unserem täglichen Handwerk, und als solche sind sie wohl auch richtig, weil tauglich. Mit solchen Begriffen aber schlagen wir den neugierigen Hörer – sei’s als Programmheftleser im Konzert, sei’s als Radiohörer, sei’s bei der CD-Booklet-Textlektüre oder beim Lesen einer Konzertkritik – mit solchen Begriffen schlagen wir ihn in die Flucht, erzeugen wir Angst, Frustrationen und Minderwertigkeitskomplexe. Da hat einer schon mal eine ganze Symphonie verpaßt, weil er auf der Lauer lag, den Einsatz des 2. Themas zu hören nach einer motivisch gebundenen, in die Dominante modulieren Fortspinnung; da ist ihm, dem Konzertabonnenten, das Ganze entgangen, weil ihm der analytische Oberlehrer weismachen mußte, daß eben jenes 2. Thema in der Coda dann eine verborgene Variante des 1. und eine augmentierte Antizipation des Hauptthemas im Finale wäre. Niemand auf der ganzen musikalischen Welt hört das, niemand außer jenem Analytiker, der zu Hause, bewaffnet mit der CD-Fernsteuerung und der Partitur vor der Nase, diesen lebendigen Organismus, Musik genannt, in Diagrammen und Themenverzweigungs-Schnittmustern gleichsam einfriert. Analysen dieser inhumanen Art unternehmen den vergeblichen Versuch, den Reiz einer toscanischen Landschaft einzufangen mit Hilfe von Straßenkarten im Maßstab 1:500.000.


Was mag wohl dahinter stecken hinter dieser Flucht in die Unsinnlichkeit, in die bloße Abstraktion, in die Entkörperlichung von Musik? Seit den frühen Sechziger Jahren geht ein Gespenst um. Es wurde von Th. W. Adorno in die Welt gesetzt und monstert seitdem unter dem Namen „Expertenhörer“ durch die graugestrichene Welt. Er, der Experte, wäre


durch gänzlich adäquates Hören zu definieren. Er wäre der voll bewußte Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. [...] Während er dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan folgt, hört er das Aufeinanderfolgende: vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, daß ein Sinnzusammenhang sich herauskristallisiert. [...] Die voll adäquate Verhaltensweise wäre als strukturelles Hören zu bezeichnen.2

2 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen (1962), wiederabgedruckt in: ders., Gesammelte Schriften. Band 14, Frankfurt a. Main: Suhrkamp 1973, S. 181 f.



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