Symmetrieachse ist oder der
Goldene Schnitt oder gar ein Algorithmus. Wir stehen, um mich in ein
Bild zu flüchten, vor einer von Palladio konstruierten
venezianischen Kirche, wir werden innen drin umfangen von ihrer ganz
unverwechselbaren Besonderheit, wir erfahren indessen nichts anderes
als die Rekonstruktion der Baupläne, die Grundrisse, wir sehen
das strukturelle Skelett. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die
verkürzte Reprise, die mediantische Akkordfortschreitung, die
16taktige Periode, der doppelte Kontrapunkt, die serielle Textur,
der komplementäre Rhythmus, die Quint-Quart-Mixturen, der
Passus duriusculus und der Kanon im Septabstand –
solche Begriffe gehören zu unserem täglichen Handwerk, und
als solche sind sie wohl auch richtig, weil tauglich. Mit solchen
Begriffen aber schlagen wir den neugierigen Hörer – sei’s
als Programmheftleser im Konzert, sei’s als Radiohörer,
sei’s bei der CD-Booklet-Textlektüre oder beim Lesen
einer Konzertkritik – mit solchen Begriffen schlagen wir ihn
in die Flucht, erzeugen wir Angst, Frustrationen und
Minderwertigkeitskomplexe. Da hat einer schon mal eine ganze
Symphonie verpaßt, weil er auf der Lauer lag, den Einsatz des
2. Themas zu hören nach einer motivisch gebundenen, in die
Dominante modulieren Fortspinnung; da ist ihm, dem
Konzertabonnenten, das Ganze entgangen, weil ihm der analytische
Oberlehrer weismachen mußte, daß eben jenes 2. Thema in
der Coda dann eine verborgene Variante des 1. und eine augmentierte
Antizipation des Hauptthemas im Finale wäre. Niemand auf der
ganzen musikalischen Welt hört das, niemand außer jenem
Analytiker, der zu Hause, bewaffnet mit der CD-Fernsteuerung und der
Partitur vor der Nase, diesen lebendigen Organismus, Musik genannt,
in Diagrammen und Themenverzweigungs-Schnittmustern gleichsam
einfriert. Analysen dieser inhumanen Art unternehmen den
vergeblichen Versuch, den Reiz einer toscanischen Landschaft
einzufangen mit Hilfe von Straßenkarten im Maßstab
1:500.000.
Was mag wohl dahinter stecken hinter dieser Flucht in die Unsinnlichkeit, in die bloße Abstraktion, in die Entkörperlichung von Musik? Seit den frühen Sechziger Jahren geht ein Gespenst um. Es wurde von Th. W. Adorno in die Welt gesetzt und monstert seitdem unter dem Namen „Expertenhörer“ durch die graugestrichene Welt. Er, der Experte, wäre
durch gänzlich adäquates Hören zu definieren. Er wäre der voll bewußte Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. [...] Während er dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan folgt, hört er das Aufeinanderfolgende: vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, daß ein Sinnzusammenhang sich herauskristallisiert. [...] Die voll adäquate Verhaltensweise wäre als strukturelles Hören zu bezeichnen.2
|