- 146 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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Wir sind mit den ersten Schritten auf dem Gang durch unsere Überlegungen hier an einem heiklen Punkt angelangt, und den will ich in seiner Paradoxie einmal so bezeichnen: kein Medium geht so direkt zu Herzen (oder auch in die Beine) wie das Medium Musik. Kein Medium also braucht das erklärende Wort so wenig wie dieses. Andererseits: kein Medium ist so extrem erklärungsbedürftig wie eben diese Musik. Die Abstraktion seines Zeichensytems verweigert ein sofortiges Verstehen, und dann ist die ganze Geschichte auch so schnell vorbei, fließt unaufhaltsam dahin im flüchtigen Zeitstrom, so daß man eigentlich erst dann etwas über die musikalische Gestalt resp. ihre Form resp. ihren Inhalt sagen kann, wenn alles vorbei ist. Musikalische Gestalt wird, indem sie war. Sand, der zwischen unseren Fingern zerrinnt. Zurück bleiben eine undeutliche Erinnerung, ein amorpher Geschmack, ein diffuses Gefühl. Wir verstehen: hier muß Sprache einrasten. Sprache, die das Unbezeichenbare übersetzen hilft in die Anschaulichkeit des Gedankens, des Bildes, der Vorstellung. Sprache, die den vergänglichen Zeiteindruck verdinglicht und gleichsam wiederholbar macht. Ich sitze, indem ich dies schreibe, vor meinem PC und bemerke, daß das wie in der Computertechnologie ist: „Word speichert Analyse“, und wenn es dieses Word nicht gäbe, dann ist mein Text weg, und ich raufe mir die Haare.


Das zentrale Instrument zur Kenntlichmachung von Musik heißt Analyse. Analyse wagt den Versuch, die Frage zu beantworten, warum eine Musik ist, wie sie ist. Analyse versucht a) die Entstehungsgeschichte von Musik zu erklären, sie versucht b) die Form, die Struktur, die Idee einer Musik ans Licht zu tragen unter Berücksichtigung des jeweils gültigen ästhetischen Paradigmas. Das zentrale Medium, mit welchem Musik sich verdinglichen, entzeitlichen, veran=schaulichen läßt, heißt Sprache. Hier nun endlich sind wir an einem höchst kritischen Punkt gelandet und zugleich bei meinem eigentlichen Thema. Ich will es in die folgende Form der Frage kleiden: welche Sprache darf bzw. muß sich eine musikalische Analyse wählen, um sich das Prädikat „angemessen“ zu verdienen, angemessen der Individualität von Musik; angemessen ihrer Lebendigkeit, angemessen ihrer Sinnlichkeit, angemessen ihrer besonderen Idee? Analysen also beschränken sich in aller Regel auf die Beschreibung der strukturellen Interna einer musikalischen Gestalt. Da ist von Dux und Comes die Rede, von Engführungen und von Krebsläufigkeiten; Motive schließen sich zu Ketten zusammen oder werden fragmentiert. Reihengestalten finden sich permutiert oder horizontalisiert, in jedem Fall werden sie ausgezählt, und es kommt bei den 12-Ton-Suchtrupps dann zu Erschütterungen von mittleren bis hohen Stärken auf der Richter-Skala, wenn man alle Zwölfe beisammen hat (alle 12 Halbtonschritte, meine ich). Analysen gelangen auch zu folgenschweren Ergebnissen, wenn beim barocken Menuett eine A-B-A-Form und beim klassischen Scherzo eine modifizierte A-B-A-Form erkennbar werden. Formflüsse und Gestaltverläufe gerinnen zu überschaubaren Diagrammen, deren Besonderheit (da hat er Glück gehabt, unser Analytiker) die


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