- 145 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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J. S. Bach von Lothar Bellag / DDR - Ungarn 1985). Die Idee einer Musik (sagen wir: aus dem Stilbereich des Expressionismus) erschließt sich möglicherweise über die stilistisch verwandte Bildende Kunst, über Malereien von Kandinsky, Meidner, Werefkin oder Klee. Auch der Spielfilm kann helfen, Musik zu erhellen, zu deuten, zu verstehen, mag es sich um Louis Malles Auf Wiedersehen, Kinder! handeln, wo ein Moment musical von Franz Schubert zur Chiffre von Trennung und Schmerz wird, mag es um Polanskis Tod und das Mädchen gehen, darin Schuberts gleichnamiges Streichquartett d-Moll das Bild vom Tod in der Gestalt des freundlichen Liebhabers als zynische Lüge entlarvt. Und daß die klassische Abfolge von Thema und Variationen auch Zerfall, Auflösung und Verlust des einst festen Bodens unter den Füßen bedeuten kann, sehen und hören wir in Orson Welles’ berühmter „Frühstücks-Montage“ 1942 in Citizen Kane. Musikverstehen passiert auch dort sehr leicht, wo wir die Gelegenheit haben, live oder am Bildschirm einer Orchesterprobe beizuwohnen: indem ein Dirigent seinem Ensemble das Stück vermittelt, vermittelt er es auch uns, den Zaungästen. Doch in aller Regel müssen wir, die Fachleute, uns mit den Laien durch das Mittel der Sprache verständigen. Wir müssen in Worte fassen, was sich nicht fassen läßt, denn Musik (vor allem solche, die auf begleitende Sprache verzichtet) ist sozusagen ein semiotischer Sonderfall: sie hat zwar ein System aus Zeichen und Vokabeln, Syntaxen und Grammatiken, aber diese Zeichen sind namenlos, sie haben keine referentielle Qualität wie das Wort Wolle, das auf etwas handfest Kratziges oder ebenso handfest Kuscheliges verweist. Der einzelne Ton, der Zusammenklang, die achttaktige Phrase und das 64taktige Phrasengebilde – sie alle stehen nur für sich selbst, sie be=deuten nichts außer: daß sie sinnlicher erfahrbarer Klang sind. Schallwellen. Tönende Gestalt, eingebunden in die flüchtige Zeit ihres kurzen Erklingens. Und noch nie ist den kulturellen Meta-Systemen der Nachweis gelungen, daß sich ein kapitalistischer f-Moll-Dreiklang von einem sozialistischen f-Moll-Dreiklang irgendwie unterschiede, allen Realismus- oder „L’art-pour-l’art“-Beschwörungen zum Trotz. Musik also besteht aus einem Netzwerk der namenlosen, nicht zu benennenden Zeichen, und wenn wir diesen Bezeichnungsversuch dennoch wagen, dann müssen wir auf Hilfsbegriffe ausweichen, auf den Begriff „Klangfarbe“ z. B., auf die Begriffe „Klang-Linie“, „Kon-trapunkt“, „Vorder- und Nachsatz“, „Themenbeantwortung“ oder „Stimmenge-flecht“. Wir sind gezwungen, Begriffe aus dem Medien Malerei, Sprache oder auch aus dem Bereich der Biologie zu entleihen (gar aus der Küche, wenn wir von „Klangtrichtern“ reden), weil Musik, dieses namenlose Zeichensystem, eben keine genuine Nomenclatura vorweisen kann. Am Rande vermerkt und damit kein Mißverständnis sich einschleiche: ich spreche nicht von solcher Musik, die in irgendeiner Form „beschriftet“ ist, sei es durch Mißbrauch in der Werbung, sei es durch einen ehemals vorhandenen Text, sei es durch liturgische oder politische Verwendung. Ich spreche vom Klavierstück, vom Streichquartettsatz, von einer Concerto grosso-Introduktion oder meinetwegen auch von einer Fuge. Von Musik also ohne außermusikalischen Kontext.



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