- 133 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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Bevor nun jedoch weitere Oktavelemente außerhalb des Hauptthemas untersucht werden sollen, sei kurz eine Bemerkung über die klangliche Realisierung von analytischen Einsichten wie jenen über einen Spitzentonverlauf oder vergleichbare Konstrukte eingeschoben. Die Mittel, die zur Verdeutlichung solcher sich nicht durch natürlichen Oberstimmenverlauf von selbst ergebenden Linien angewendet werden können – Betonung einzelner Noten, ihre Verlängerung über die eigentlich vorgeschriebene Dauer hinaus oder ähnliches –, können in Widerspruch zum eigentlichen Notentext treten. Es ist dann eine Frage der Abwägung, worauf jeweils verzichtet werden soll – auf die Vermittlung einer analytische Einsicht oder auf Texttreue. Ein einziges Beispiel: in einem Konzert in Prag am 30. Juni 1957 spielte Arturo Benedetti-Michelangeli die G-Moll-Ballade77

77 Auf Compact Disk veröffentlicht unter der Nummer PR 250 042. Der Verfasser ist sich bewußt, daß die Unterstellung, der Pianist habe diese übergeordnete Linie verdeutlichen wollen, spekulativen Charakter besitzt.

und betonte dabei in auffälliger Weise die jeweils ersten Noten der fallenden Sekundmotive (d2 in Takt 8 und 15, g2 in Takt 13, ja selbst das c2 in Takt 6 gehörte dazu) mit einem Decrescendo der sich daran anschließenden Töne, so daß jene genannten Linienzüge sich durchaus beim Hören einstellen, zumal er jene von Chopin gesetzten Betonungszeichen auf dem c zu Beginn der jeweils ersten Hauptthemaphrase in Takt 8, 10, 12 und 16 (wie auch das Crescendo von Takt 6 nach 7) nicht realisierte. Auffällig ist zudem, daß in Takt 14 die Töne es2 und d2 sowohl dynamisch wie agogisch hervorgehoben wurden und in Takt 15 nicht das cis2 – wie die harmonische Spannung nahelegen würde –, sondern das c2 betont wurde. (Zudem, um die Linie nach vorn zu verlängern, dehnte er in Takt 6 das f2, so daß sich für den Hörer schon von dort eine fallende Stufenlinie vom f – wenn nicht gar schon vom ebenfalls hervorgehobenen a2 in Takt 4 an – über es2, d2 usw. zum g1 ergibt.) In einem Konzert ist eine solche Verdeutlichung notfalls auch gegen den Notentext nach Ansicht des Autors nicht nur durchaus legitim, sondern wünschenswert! (In seiner späteren Einspielung für die Deutsche Grammophon-Gesellschaft78
78 Als LP unter der Nummer 2530 236, als CD unter 413 449-2.

sind denn auch diese Tendenzen zurückgenommen.)


Zurückkehrend zur Frage des Oktavintervalles als Bauelement springt in Auge, daß jene – wiederum „toten“ – Intervalle, die im Seitensatz die Hauptmotive verknüpfen (Takt 69, 71 und den analogen Stellen), ebenfalls dieser Kategorie der aufwärtsgeführten Oktaven angehören79

79 Entfernt damit verwandt ist die tote Oktave zwischen Takt 7 und 8 in der Melodie des A-Moll-Préludes op. 28, Nr. 2: auch hier sind zwei quinttransponierte Teile zu beobachten – E-Moll nach H-Moll – und eine Motivik, die in ihrer Quarten- und Terzstruktur an die Ballade erinnert (u. a. auch das Hauptmotiv des Präludiums Takt 2 f. an das „Frage“-Motiv der Einleitung der Ballade Takt 6 f.).

und darüber hinaus – wie ja auch die Oktavintervalle in Takt 13 und 14 – mit anschließenden absteigenden Sekunden (im Seitenthema als „Brückenmotiv“ ausgebildet) versehen sind. Ferner ist im Rahmen der Motivik der Haupt- und Seitenthemenabschnitte noch zu bemerken, daß jene in ihrer Wirkung unvergleichliche Hinzufügung bei der Wiederholung

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