- 104 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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substituiert.20
20 Takt 4 läßt im Hinblick auf eine Haupttöne auch andere Interpretationen zu, z. B. folgende: die Doppelschlagfigur fis-g-fis-eis-fis repräsentiert den Hauptton fis, das folgende a ist obere Nebennote zum darauffolgenden Hauptton g, an den sich der (wiederholte) Hauptton es anschließt, mithin die Folge fis-g-es eine Sequenzierung der Folge b-c-as. Dem Deutungsspiel scheinen keine Grenzen gesetzt.

Zudem ist in keinem der Takte 3 bis 5 der für das Hauptthema charakteristische aufsteigende kleine Sekundschritt zwischen erstem und letztem Ton dieses viertönigen Gebildes vorhanden.21
21 Er ist als eigene Stimme sogar notiert, wenn er auch aus Gründen der einfacheren Notierung – wie die übrigen horizontalen Stimmen – im letzten Achtel des Taktes rechnerisch nicht mehr vertreten ist (eine auch rechnerische „richtige“ Legato-Notierung bietet die um ein Achtel im Takt nach vorn gerückte Version der Figur beim Übergang von Takt 14 nach 15). Im übrigen ist die Stimmführung relativ konsequent durchgehaltene Fünfstimmigkeit: das g1 in der ersten Hälfte von Takt 9 ist mit doppelter Behalsung zu denken, ebenso das folgende d1 in der zweiten. Die bei Lange (So spiele und lehre ich Chopin. Analysen und Interpretationen, Stuttgart: Franz Steiner 1994, S. 144) vorgeschlagene Hinzufügung eines zusätzlichen b1 auf dem 5. und 6. Viertel ist überflüssig; die Oktavparallele d2-c2/d1-c1 beim Übergang von Takt 9 nach 10 ist in jedem Fall einer stimmführungsmäßigen Freiheit des Satzes zuzuschlagen.

Notenbeispiel 6

Dessen ungeachtet ist für das Hören einigermaßen plausibel, daß das motivische Geschehen ab Takt 3 eine Art Hinführung und Vorbereitung des Hauptthemeneinsatzes darstellt. Ist nun ein Interpret der Ansicht, in der Einleitung würden Motivkeime sowohl vom Haupt- wie vom Seitensatz vorgestellt, so wird sich sein Spiel der fraglichen Töne vom Beginn der Einleitung unterscheiden vom Vortrag jemandes, für den lediglich die Motivbeziehung zum Hauptthema alleine relevant ist. Ob allerdings umgekehrt – und dies wäre die genannte Skepsis – ein Hörer durch das Anhören einer Interpretation der ersteren Art gewissermaßen allein durch das Hören mit den Ohren auf diese Beziehung gestoßen wird, ist doch recht unwahrscheinlich.


Der Einwand, derlei Relationen wie die von einem Motiv zu einem anderen, das erst in beträchtlicher zeitlicher Distanz wiedererscheint, seien beim Hören nicht nachvollziehbar und damit ästhetisch irrelevant, ist nicht blank zu akzeptieren.22

22 Zur Legitimität von Beziehungen, die nicht unmittelbar auf der Hand liegen, vgl. Carl Dahlhaus, Motivbeziehungen – real oder fiktiv?, in: Melos/NZ, 4. (45./139.) Jg. (1978), H. 6 (Nov./Dez.), S. 476.

Zum einen handelt es sich um Musik, die mehrmaliges Hören desselben Werkes, ja letztlich auch Kenntnis der Noten zu ihren ästhetischen Voraussetzungen zählt, zum anderen ist – zumindest wenn man die weitere Entwicklung der europäischen Kunstmusik bis hinein in die Moderne als für die aktuelle Rezeption älterer Musik bedeutsam hält – dem Hörer ein Verständnis für submotivische und Keimzellen- oder Urmotivanalyse zugewachsen, das sich nicht auf die unmittelbare Hörbarkeit von Beziehungen allein vereidigt. Weiters sind die Bezugspunkte dieser

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