- 94 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Entitäten”, »natürlichen Sprachen«, »musikalischen Werken« und »Mythen«9
9
Claude Lévi-Strauss, Mythologica IV. Der nackte Mensch 2 [deutsch], Frankfurt a. M. 1976, S. 758.
. Diese Auffassung ermutigt auch uns moderne Menschen, musikalische Werke nicht als spezielle Erfindungen abzutun, sondern als Schöpfungen zu verstehen, die auf umfassende Weise Weltsinn in sich bergen und vielleicht gerade daraus ihre Faszination ziehen.

Um in der Geschichte der Musikwissenschaft einen großen Schritt weiterzugehen: Im Laufe des Generalbasszeitalters löst sich die Musik aus ihrer engen Verflechtung mit dem Quadrivium, um an das Trivium von Grammatik, Rhetorik und Dialektik heranzurücken: aus der exakten Wissenschaft wird eine schöne Kunst, aus der Ars Musica die Musikästhetik. Freilich geht die Bindung an das Quadrivium nicht verloren. Noch Haydn attestiert seinem jüngeren Freund Mozart »Compositionswissenschaft«: Auch in der Ära der Wiener Klassik bleibt es für einen Komponisten von Rang unverzichtbar, sein Schaffen in einem Ordnungsgefüge höherer Art aufgehoben zu wissen, also Gesetze der Schöpfung nachzuvollziehen. Zugleich aber sieht er sich selbst als Schöpfer individueller Werke, zu deren Komposition er »Geschmack« benötigt – also die Fähigkeit, in einem sozialen Feld zu agieren und dieses mitzuprägen.

Indem beide Momente als von gleichem Wert erfahren werden, erlebt in der Wiener Klassik seinen Höhepunkt, was sich im Generalbasszeitalter nur angebahnt, im Werk Bachs freilich eine Art Vorblüte erlebt hatte: Musik ist individuelles, selbstbezügliches, seinen Sinn in sich tragendes Werk und »fait social«, um diese Doppelgesichtigkeit im Sinne Theodor W. Adornos zu fassen. Wer mit Adornos Dialektik nichts im Sinne hat, mag sich einer Metapher Erich Auerbachs bedienen, der die Kunst – für ihn ist es in diesem Fall vor allem die literarische – als »figura« zu fassen versucht: Etwas bedeutet sich selbst und zugleich etwas anderes; und beides ist »in dem fließenden Strom enthalten, welcher das geschichtliche Leben ist«10

10
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern u. München 71982, S. 75.
.

Für manchen, der heute über die Geschichte der »Musikwissenschaft« im weiteren Verständnis des Wortes nachdenkt, ist es bei diesem Zweischritt geblieben: »Mittelalter«, d. h. Musik als Allegorie und Abbild; »Neuzeit«, d. h. Musik als Figur im doppelten Wortsinn. In Wahrheit fügt die Romantik dem zweiten einen dritten Schritt hinzu: Kunst wird zur neuen Mythologie, tritt an die Stelle von Religion. Auf den ersten Blick scheint dies vor allem in der bildenden Kunst hervorzutreten: Caspar David Friedrichs Mönch am Meer oder Théodore Géricaults Floß der Medusa zeigen schon fast überdeutlich die Tendenz, nicht allein drängenden Erfahrungen der Gegenwart im Medium der Kunst höheren Sinn zu


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