- 93 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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wünschenswert: nämlich das jeweils Charakteristische an einem Werk durch fundierte Vergleiche mit anderen Werken herauszuarbeiten.

Arnold Schönberg, Vater der neuen Musik, sieht das kaum anders, wenn er an seinen Freund und Schüler Rudi Kolisch schreibt: Die Reihe meines Streichquartetts hast Du richtig (bis auf eine Kleinigkeit: der 2. Nachsatz lautet: 6. Ton cis, 7. gis) herausgefunden. Das muß eine große Mühe gewesen sein, und ich glaube nicht, daß ich die Geduld dazu aufbrächte. Glaubst du denn, daß man einen Nutzen davon hat, wenn man das weiß? Ich kann es mir nicht recht vorstellen. Nach meiner Überzeugung kann es ja für einen Komponisten, der sich in der Benützung der Reihen noch nicht so gut auskennt, eine Anregung sein, wie er verfahren kann, ein rein handwerklicher Hinweis auf die Möglichkeit, aus den Reihen zu schöpfen. Aber die aesthetischen Qualitäten erschließen sich von da aus nicht, oder höchstens nebenbei. Ich kann nicht oft genug davor warnen, diese Analysen zu überschätzen, da sie ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist!8

8
Arnold Schönberg, Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 178 f.

Hier ist auf den Punkt gebracht, was George Steiner mit dem Unterschied von »Erfindung« und »Schöpfung« meint: Die analysierende Musikwissenschaft zielt allzu oft nur auf die Erfindung und übergeht dabei die Schöpfung, die das Kunstwerk darstellt. Damit bin ich noch genauer bei meinem Thema: Die Lehrerausbildung braucht keine Musikwissenschaft, die Musik allein als Erfindung analysiert, sondern eine solche, die Musik als Schöpfung würdigt.

Ich will der Geschichte ,unserer‘ Wissenschaft ein wenig nachgehen. Das Mittelalter sprach von der »ars musica« und verstand darunter die Mitte zwischen reiner Wissenschaft (»scientia«) und reiner Praxis (»usus«). Es ging um eine Musiklehre, die von der Spekulation über die Komposition bis zur kunstvollen, durchdachten Aufführung reichte. Und wie selbstverständlich erwartete man von einem in der Ars Musica Kundigen, dass er Philosoph, Musiktheoretiker, Komponist und Ausübender in einer Person war. Das lag auch deshalb nahe, weil die so verstandene Musik zusammen mit der Arithmetik, Geometrie und Astronomie ihren Platz im Quadrivium der sieben freien Künste hatte, zu dem das Trivium von Grammatik, Rhetorik und Dialektik trat.

Das klingt heute wie aus einer anderen Welt und ist doch immer noch bedeutsam. Denn indem Musik denjenigen Wissenschaften an die Seite gestellt wurde, in denen es um Maß und Zahl geht, wurde deutlich, dass sie der Schöpfung angehört, die in eben diesem Sinne nach Maß und Zahl geordnet ist. Damit wiederum war klar, dass Reden über Musik immer zugleich ein Philosophieren über die Anfänge der Welt und den Grund des Seins darstellen. Vor diesem Horizont ist die Auffassung des großen Anthropologen und Strukturalisten Claude Lévi-Strauss zu beachten, das Denken sei als eine dem Menschen vorgeordnete Struktur zu verstehen, die sich in vier »Hauptfamilien« erschließe: in „mathematischen


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