- 95 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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geben, sondern die Kunst überhaupt zu benutzen, um Sinn im Widersinn aufscheinen zu lassen.

Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass speziell die »absolute« Musik, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts genannt wird, dies noch viel besser kann. Was Kant auf eine Stufe mit »Laubwerk zu Einfassungen« und Papiertapeten gestellt11

11
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. 5, Berlin 1908, S. 229.
, was Hegel als »leer, bedeutungslos« und »nicht eigentlich zur Kunst« gehörig apostrophiert hatte12
12
Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, hg. von F. Bassenge, Frankfurt a. M. o. J., Bd. 2, S. 271.
, wird in der Romantik zum Sinnbild des sich selbst feiernden Geistes, zur jeweils einzigartigen und unwiederholbaren Schöpfung des zum Gott gewordenen Menschen.

Auch wenn wir diese im 19. Jahrhundert weit verbreitete Auffassung als hypotroph ansehen und ihr vordergründig keinen Geschmack abgewinnen können, werden wir sie nicht los: Sie gehört zur neuzeitlichen Episteme: Weshalb werden die so genannten »großen Meisterwerke« als Kanon europäischer Musikkultur immer wieder aufgeführt? Sie dienen der Selbstverständigung über bleibende Werte, sind die Bibel des Gebildeten. Selbst in der relativierenden Dialektik von Theodor W. Adorno, derzufolge in klassischer Musik »Emanzipation vom Mythos und Versöhnung mit diesem« erfahrbar sei13

13
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt a. M. 1970, S. 316.
, wird die Affinität von Musik und Mythos nicht bestritten. Ich selbst leugne nicht, dass ich bestimmte, mir lieb gewordene Werke des klassischen Musikrepertoires gelegentlich an mir vorüberziehen sehe wie die Himmelsgestirne in ihren Bahnen – übrigens eine Metapher, die den vorbehaltlosen Beifall des Strukturalisten Lévi-Strauss finden würde.

Auch das vermeintlich interesselose Analysieren autonomer Strukturen ist ,Arbeit am Mythos‘ – am Mythos der selbstbezüglichen Musik als Hypostasierung des mündigen Subjekts, das sich sein Gesetz selbst gibt. Niemand wird etwas gegen solches Analysieren einzuwenden haben – schon gar nicht gegen die Entdeckerfreuden, die entstehen können, wenn man Gehörtes und Erlebtes mit Termini wie »Quintschrittsequenz« und »Sonatenrondo« belegen oder kompositorische Strategien in womöglich noch feineren Nuancen nachzeichnen kann. Doch eines muss deutlich sein: Aus einer Musikbetrachtung, welche diesen Namen verdient, ist der phänomenologische Aspekt nicht herauszuhalten, welcher – mit Edmund Husserl zu sprechen – die »Eigentümlichkeit des intentionalen Erlebnisses«, das »Bewußtsein von etwas« in Blick hat14

14
Edmund Husserl, Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, in: Husserliana. Gesammelte Werke Bd. 3, 1, Den Haag 1976, S. 200.
. Und ich erwähne in diesem Zusammenhang Husserls Phänomenologie, um deutlich zu machen, dass es mir keineswegs um die platte Alternative Form-Inhalt, autonom-heteronom

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