- 92 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (91)Nächste Seite (93) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Erfindung. Doch von Wissenschaft und Technik allein seien keine Antworten auf die großen Fragen der Moral, der Politik und der Ästhetik zu erwarten. Hier könne, wenn überhaupt, nur eine Besinnung auf das schöpferische Potenzial, auf den kreativen Sinn und den ekstatischen Geist des Menschen weiterhelfen, was auch und vor allem eine Besinnung auf die Schöpfungen in Religion und Kunst in sich schließe.

Das ist ein wertkonservativer Standpunkt, dem ich mich hinsichtlich der Musikwissenschaft vollkommen anschließe, sofern es um die Beschäftigung mit den großen Musikschöpfungen unserer Kultur geht. Ich spreche hier nicht von Popularmusik oder von den Gegenständen der Musikpsychologie und -soziologie: Sie mögen auf »erfinderische« oder »technische« Weise behandelt werden. Wo jedoch die sogenannte traditionelle Musik zur Rede steht – und um sie kreisen laut Statistik aus den Jahren 2000/2001 immer noch 76 % der musikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen an deutschen Musikhochschulen6

6
Nina Adam, Florian Heesch u. Susanne Rode-Breymann, Über das Gefühl der Unzufriedenheit in der Disziplin, in: Die Musikforschung, 55. Jg. (2002), S. 262. – Dass die universitäre Musikwissenschaft in dieser aktuellen Aufstellung nicht berücksichtigt ist, erscheint als geringer Mangel: Zum einen sieht es an den Universitäten kaum anders aus; zum anderen kommt die Mehrzahl der Gymnasiallehrer und -lehrerinnen mit dem Fach Musik von den Musikhochschulen.
–, genügt dies nicht. Das möchte ich an Steiners polarem Begriffspaar »Erfindung« und »Schöpfung« deutlich machen.

Musikanalyse, wie sie in Gestalt unterschiedlicher Systeme in der gegenwärtigen Musikwissenschaft etabliert ist, betrachtet Musik als »Erfindung«, welcher der Analytiker durch die Betrachtung ihrer Struktur auf die Schliche zu kommen hat. Um deutlich zu machen, dass ich diesen Zugang zur Musik für bedeutend halte, zitiere ich an dieser Stelle Carl Philipp Emanuel Bach: Nach meiner Meynung. NB um Liebhaber zu bilden, könnten viele Dinge wegbleiben, die mancher Musicus [d. h. bloß ausübender Musiker] nicht weiß, auch eben nothwendig nicht wißen darf [um den nötigen Respekt vor dem Komponisten zu behalten]. Das Vornehmste, nehml. das analysiren fehlt. Man nehme von aller Art von musicalischen Arbeiten wahrhafte Meisterstücke; zeige den Liebhabern das Schöne, das Gewagte, das Neue darin; man zeige zugleich, wenn dieses alles nicht drinn wäre, wie unbedeutend das Stück seyn würde; ferner weise man die Fehler, die Fallbrücken die vermieden sind, und besonders in wie fern einer vom ordinairen abgehen u. etwas wagen könne u. s. w.7

7
Carl Philipp Emanuel Bach. Briefe und Dokumente. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, hg. von Ernst Suchalla, Göttingen 1994, S. 658 f.

Da wird die technische Analyse zum »vornehmsten« Umgang mit Musik erhoben. Doch erst bei genauerer Betrachtung wird klar, was der Bach-Sohn eigentlich meint: Technisches Wissen und »Compositionswissenschaft« im Sinne Haydns sind deshalb das »vornehmste«, weil der Komponist von ihnen lebt; und deshalb lässt er sich auch nicht vorschnell von anderen in die Karten schauen. Für den Diskurs über Musik – auch für den gebildeten – ist etwas Anderes


Erste Seite (1) Vorherige Seite (91)Nächste Seite (93) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 92 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben