Aphoristische Kürze (etwa Nr. 12, »Galgenlied«, 18 Sekunden Dauer) ist ebenso
konstatierbar wie – auch strukturell – bedeutsam Auskomponiertes wie etwa Nr. 8,
»Nacht« (»Finstre schwarze Riesenfalter. . . «), eine Passacaglia, deren düstere
Klanglichkeit nach Prinzipien konstruiert ist, die zehn Jahre später in der Dodekaphonie
wiederkehren und unmittelbares Vorbild – bis in die dreitönigen Intervallzellen und ihre
Ableitungen – für Anton Weberns Konzert op. 24 sind. Es gibt bewusste »Kunststücke«
wie den »Mondfleck« (Nr. 18), dessen Doppelkanon in den Oberstimmen ab
Stückmitte im Krebsgang rückwärts läuft – Anregung für Dutzende spätere
Kompositionen, am prominentesten wohl im 3. Satz von Alban Bergs Lyrischer Suite für
Streichquartett.
Aus Arnold Schönbergs Berliner Tagebuch, 12. 3. 1912: Die Hartnäckigkeit, mit der mir meine Schüler auf den Fersen sind, indem sie zu überbieten trachten, was ich biete, bringt mich in Gefahr, ihr Nachahmer zu werden, und hindert mich, dort ruhig auszubauen, wo ich eben stehe. Sie bringen gleich alles zur zehnten Potenz erhoben. Und es stimmt! Es ist wirklich gut. Aber ich weiß nicht, ob es nötig ist. Ich bin deshalb jetzt gezwungen, noch sorgfältiger zu unterscheiden, ob ich schreiben muss, als früher. Der Pierrot lunaire kennt zahlreiche Stücke von »Musik über Musik«: außer der erwähnten Passacaglia noch Fuge, Kanon, Triosonatentypus, Walzer, Polka; die Nr. 19 (Serenade) ist ein sehr grotesker langsamer Walzer (auch »Boston« genannt) und die Heimfahrt (Nr. 20) geschieht auf venezianischer Gondel als eine Barcarole. Erst im letzten Stück (Nr. 21, »O alter Duft aus Märchenzeit«) erscheinen alle Instrumente in einer Komposition vereint: in dieser »Musik über Musik« in »schwebender Tonalität« (so Schönbergs Begriff) betört der »alte Duft« des verfremdeten E-Dur die »neuen« Sinne, und dieses E-Dur verweist zurück auf die eigene Kammersymphonie op. 9, die 1906 entstanden war, also noch vor all den existenziellen Krisen und Katastrophen. Und zugleich ist dieses Ineins von E-Dur und E-Phrygisch ein Reflex des langsamen Satzes aus Brahms’ IV. Symphonie. Eine berühmte Pierrot-Anekdote, über die so viele Gerüchte schwirren, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Berliner Tagebuch, 23. 10. 1912: Das muss ich mir notieren: In Hamburg, am 19. Oktober nach der Aufführung von »Pierrot lunaire«, gestand mir (er sagte: beichten!) Essberger, der mitwirkende Klarinettist, er habe ,Mondfleck‘ in einer Probe einmal auf der A-Klarinette statt auf der B-Klarinette gespielt, und ich hätte es nicht bemerkt. Möglich, aber es ist nicht erwiesen, dass ich es nicht doch bemerkt habe (stellenweise) und nur nicht die Courage hatte, so was auszusetzen, da man ja nicht an die Möglichkeit denkt, dass jemand ein ganzes Stück einen halben Ton tiefer spielt, sondern annimmt, man verhört sich. Aber für mich bemerkenswert, weil ich mich dadurch erinnere, wieso es kam, dass ich aus einem vertrauensseligen ein misstrauischer Mensch geworden bin! Diese Tücke!! |