- 83 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (82)Nächste Seite (84) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

vergessen werden, dass die Gattung seit dem 18. Jahrhundert ungebrochen beliebt war – und dass, auf der anderen Seite, im Theater die Tradition des stilisierten, »melodisierten« Sprechens gerade der »Klassiker« durchaus noch lebendig war (und wenn Sie also Bassermann auf einer uralten Edison-Walze hören – der Wiiinnnnd!, dann haben Sie einen lebendigen Eindruck von der Sache und erinnern sich noch lebhafter an Stravinskijs « ululations »).

Der Bohème-Dandyismus gönnt sich ein manieristisches formales Outfit: alle Gedichte sind identisch dreistrophig aufgebaut mit dreizehn Zeilen (4 + 4 + 5) des Schemas

A B C D / E F A B / G H I K A

Basis ist das Rondel, Ableger des spätmittelalterlichen Rondeau, das ja auch musikalisch eine wichtige Rolle spielt. Dem durchgängig identischen Reimschema und den permanenten vierhebigen Jamben in Girauds Original setzt Hartleben reimlose Zeilen und wechselnde Versmaße entgegen.

Dem allen nun begegnet Schönberg mit einer äußersten Vielfalt des musikalischen Formens und des Charakterisierens. Ferruccio Busoni hörte das Werk am 17. Juni 1913 in einer Privataufführung bei sich daheim und verknüpfte Begeisterung mit klugem analytischem Abwägen, wie ein Brief vom 19. 6. dokumentiert: Die Form des Pierrot Lunaire ist sehr befriedigend. Sie besteht aus dreimal sieben Gedichten, also drei Sätzen. Die Anzahl und Anordnung dieser Gedichte scheint erst – chemin faisant – festgesetzt und gefunden worden zu sein. Es formte sich alles unter der Hand. Trotzdem sie alle grotesk sind, so kann man die drei Theile (nach einigen überwiegenden Nuancen) immerhin mit lyrisch, tragisch und humoristisch überschreiben.

[Das ist sehr klug und auch eine große Hörhilfe; also nach Möglichkeit sich merken: drei Teile, lyrisch, 1–7, tragisch, 8–14 und humoristisch, 15–21.] Weiter im Zitat: Zwischen einigen der Lieder scheinen kurze verbindende Übergänge nach-komponiert zu sein, welches mir als »Naht« auffiel. Im zweiten Theile ist ein ganzes instrumentales Intermezzo (ohne Text) eingefügt, die dreistimmige Paraphrasierung eines früheren Flöten-Monologs (der übrigens ein Kind der traurigen Weise aus Tristan ist).

Fünf Spielende bedienen acht Instrumente, die in immer neuen, sehr charakteristischen Farbkombinationen erscheinen, mit äußerster Reduktion jeweils am Ende des I. und des II. Teils (die von Busoni angedeutete »traurige Weise« der Solo-Flöte in Nr. 7, »Der kranke Mond«; Schönberg selbst rühmte die »absolute Freiheit« dieser Melodie; Solo-Klavier in Nr. 14, »Die Kreuze«, dann allerdings zum Ensemble erweitert).


Erste Seite (1) Vorherige Seite (82)Nächste Seite (84) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 83 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben