- 397 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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es gebot, stumm zu lauschen. Dafür schoss die Musikkritik im 19. Jahrhundert ins Kraut; sie bestimmte die normative Sprache über Musik im öffentlichen Raum, während die allmählich entstehende Musikwissenschaft sich vor allem um biographische Fakten, Werkverzeichnisse und Gesamtausgaben bemühte. Die Schere zwischen wissenschaftlicher Fachsprache, Konzertführer-Esoterik und musikbezogener Umgangssprache öffnete sich vollends im 20. Jahrhundert, woran auch musikpädagogische Bemühungen bis heute kaum etwas geändert haben.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts müssen wir konstatieren, dass die Fähigkeit, über Musik angemessen zu kommunizieren, der Bedeutungslosigkeit entgegenschrumpft. Es scheint, wir müssen neu ermitteln und vermitteln, wozu Sprache angesichts der Musik taugt, warum zum strukturellen und inhaltlichen Verstehen von Musik Sprache unabdingbar ist und wie wichtig Sprache für die Weitergabe des kulturellen Erbes wie des Gegenwartsschaffens ist. Nischen der Sprachlosigkeit und damit der Theorielosigkeit kann sich die Musikdidaktik nicht auf Dauer leisten. Mag das Aktuelle noch binär (Neue Medien) oder ternär (Trommeln) zu skizzieren sein, so geht doch die historische Dimension der Musik ohne sprachliche Durchdringung restlos verloren. Analytische Kategorien, die Struktur, Bedeutung, Funktion von Musik erhellen, sind ohne Sprache eben auch nicht denkbar. Ja, selbst der Austausch über das persönliche Musikerlebnis – spontan und ohne jeden intellektuellen Anspruch – erfolgt über die Sprache. Sämtliche Dimensionen von Musik sind mit der Sprache verknüpft.

Unter Hinweis auf Erkenntnisse der Sprachwissenschaft schreibt Ulrich Günther, dass »Sprache immer ein Akt der Wahrnehmung und des Bewußtseins ist«23

23
Ulrich Günther, Die Sprache in der Musikerziehung, in: Westermanns Pädagogische Beiträge, H. 17/1965, S. 498–507, hier S. 501.
. Die Sprache richtet das Denken und Bewusstsein auf die Gegenstände der Wahrnehmung, so dass an der Art und Weise des Sprechens über diese Gegenstände die Veränderungen im Denken und in der Wahrnehmung des sprechenden Menschen erkennbar werden. Dies betrifft direkt auch den Musikunterricht, wo Sprechen über Musik demnach außer Unterrichtsmedium auch Unterrichtsziel, Unterrichtsgegenstand und Unterrichtsmethode sein kann. Die Schülerinnen und Schüler via Sprache zu veränderter Wahrnehmung, neuem Denken, erweitertem Bewusstsein und veränderten Einstellungen zu bringen bedeutet auch, zu deren Persönlichkeitsentwicklung beizutragen. Dabei ist es durchaus nicht gleichgültig, an welchem Gegenstand dies geschieht. Musik ist nicht austauschbar etwa gegen Sport oder Mathematik: Die Besonderheit der ästhetischen Wahrnehmung, die eben nicht ausschließlich intellektuell, nicht ausschließlich emotional, nicht ausschließlich sinnenhaft ist, bedingt das Spezifische des Verstehens von und der Verständigung über Musik.


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