- 396 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Den Verstehensbegriff, der meinen Überlegungen zugrunde liegt, kann ich in der gebotenen Kürze nicht umfassend entfalten; ich weise daher auf die Arbeit von Ursula Brandstätter hin, die sich eingehend mit dem Problem des Verstehens von Musik in Bezug auf Sprache auseinandersetzt.20
20
Ursula Brandstätter, Musik im Spiegel der Sprache. Theorie und Analyse des Sprechens über Musik, Stuttgart 1990.
Ich verstehe Sprache im Sinne von Jakob Muth als »Informationsübermittlungs-System«21
21
Jakob Muth, Beurteilungs- und Auswahlkriterien für Unterrichtsmedien, in: Medienpädagogik, hg. von H. Knoll u. J. Hüther, München 1976, S. 121.
und damit als eines der ältesten Medien.

Plädoyer für das Nachdenken über Musik

Nachdenken über Musik gehört zu den ältesten Kulturleistungen des Abendlandes. Ich kann mich hier auf ausgewählte Namen und Stichworte beschränken: Platon, Aristoteles, Pythagoras; die septem artes liberales, die Musiktraktate eines Boethius oder Grocheo, Solmisationssilben und Mensuralnotation – von der griechischen Antike bis zum späten Mittelalter wurden die Grundlagen für die hochdifferenzierte Sprache der abendländischen Musikkultur geschaffen: Notation, Theoriegebäude, Fachterminologie und Wissenschaftssystematik. Die Systeme und Ordnungsschemata der abendländischen Musik (z. B. Obertonreihe, temperierte Stimmung, Kadenzharmonik, Akzentstufentakt, Zwölftonreihe, Reihungs- und Entwicklungsformen, zyklisches Prinzip etc.) sind ohne Sprache nicht denkbar. Daher kann es auch kein Verstehen von Musik dieses Kulturkreises ohne die Kenntnis des ihr zugrundeliegenden Systems und ihrer höchst differenzierten, verbindlich gewordenen Terminologie geben.

Die im 18. Jahrhundert sich entwickelnde bürgerliche Individualität begünstigte hingegen das subjektive Erleben von Musik; neue Stilrichtungen ließen das emotionale Erleben des einzelnen Hörers in den Vordergrund treten. Die Gefühle des Hörers wurden in der Folgezeit – seit dem 19. Jahrhundert bis heute – tendenziell wichtiger als das Verstehen der musikalischen Rhetorik und der Strukturen der Musikwerke.

Peter Schleuning legt dar, wie und warum im 19. Jahrhundert das Sprechen über Musik in die Krise geriet, von der es sich bis heute noch nicht erholt hat. Dem kunstsinnigen Bürgertum des 19. Jahrhunderts verschlug es angesichts der »Veränderungen in der Welt« die Sprache, und die Musik wurde in diese Krise hineingerissen22

22
Peter Schleuning, Sprechen über Musik, in: Musik und Unterricht, 3. Jg. (1992), H. 15 (Juni; Themenheft: Sprechen über Musik), S. 4–9 , hier S. 4.
. Sie wurde zum Rückzugsgebiet, zur Ersatzreligion, der Konzertsaal zur Kirche, in der die Ehrfurcht vor dem Genie des Komponisten / des Interpreten
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