Musikdidaktik ohne Nachdenken
Musikpädagogik versteht sich heute nicht als »Theorie für die Praxis«, sondern als eine Disziplin,
die »die Praxis (und ihre Reflexionsformen) lediglich als Gegenstand wissenschaftlich zu beobachten
hätte.«13
Vogt, a. a. O. (s. Anm. 1), S. 6.
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Die aktuelle Fachdidaktik scheint demgegenüber zu einer Praxis ohne Theorie zu
mutieren.
Die Musikdidaktik hat sich mehr oder weniger modischen allgemeinpädagogischen
Prinzipien (oder Schlagworten) wie Handlungsorientierung, Schülerorientierung,
Lebensweltorientierung, Kreativität etc. in einem Maße untergeordnet, das jede
Sachorientierung unter Legitimationsdruck setzt. Besonders deutlich wird dies
in den neuen NRW-Richtlinien Musik für die Sekundarstufe II. Hier werden
kaum noch Musikstücke oder musikalische Lerninhalte genannt, dafür aber
sachfremde Schlagworte wie »Wahrheit/Transzendenz«, »Spiel« »Authentizität«,
»Trivialität«, »Gegenwelt«, die als »ästhetische Leitideen« apostrophiert
werden14
Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in
Nordrhein-Westfalen, hg. vom Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und
Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Frechen 1999, S. 39 f.
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Nachdenken über Musik unter diesen Leitaspekten erbringt nichts als pseudophilosophisches
Geschwätz – »Gelaber«, wie es die Schüler nennen. Unterrichtsinhalte bzw.
Lerngegenstände erscheinen austauschbar, ja beliebig. Es geht kaum noch um die Sache
Musik, sondern überwiegend um Verhaltensweisen, Zugänge, Befindlichkeiten. Für die
Schüler reduzieren sich damit die Möglichkeiten zu ästhetischer Erfahrung,
Erkenntnis, Horizonterweiterung, Wissenserwerb und Persönlichkeitsentwicklung ganz
erheblich.
Theorieabstinenz, bisher Privileg der Grünen Hefte und ähnlicher unterrichtspraktischer
Produkte, hat mittlerweile auch seriöse Fachzeitschriften erfasst. Musik und Bildung
stellte Anfang 2002 ihren (musikpädagogisch-theoretischen) »Grundlagen«-Teil ein und
setzt seitdem, wie alle anderen Fachorgane auch, ausschließlich auf direkt übernehmbare
Unterrichtsmodelle, die zumeist von Lehrer/-innen geschrieben werden. Das kann
gutgehen – muss es aber nicht.
Ein besonders katastrophales aktuelles Beispiel aus Musik und Bildung, Heft 3/2002 ist
der Artikel über Morgenstern-Lieder in Klasse 5/6 von Uta Hussong und Margarete
Sandhäger15
Uta Hussong / Margarete Sandhäger, Herr Löffel und Frau Gabel. Morgenstern-Lieder im
Unterricht der Klassen 5/6, in: Musik und Bildung, 34. (93.) Jg. (2002), H. 3 (Juli–Sept.),
S. 16–27.
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Die Autorinnen stellen hier Lieder auf Morgenstern-Texte von Paul Graener, Wolfgang
König und Wilfried Hiller als Singmaterial vor. Mangelndes Problembewusstsein der
Autorinnen, vielleicht aber auch fehlendes historisches Wissen führen hier zu
Fehlinformationen und Auslassungen,