Tötungen in die Handlungen eingeflochten und
die Musik des Tango nuevo deutlich als die Musik des Widerstands gegen Militärs und
Diktatoren ausgewiesen. Und diese Musik wendet sich auch entschieden gegen
Kolonialismus und Ausbeutung, auf geistigem wie musikalischem Gebiet. Es gibt
in den Industrieländern nur wenige historisch gewachsene Beispiele für eine
erfolgreiche populäre Musik, eine Musik von »unten«, die es vermochte, dem
Druck der angloamerikanischen Pop- und Rockmusikindustrie standzuhalten und
ihre Authentizität zu bewahren. Tango zeigt in seiner Geschichte diese Stärke,
insbesondere auch durch den Tango nuevo, der gar Einflüsse der westlichen
Kunstmusik ohne Einbuße seiner Tradition und emotionalen Vitalität spiegeln
konnte.
Aber auch in Europa und in Deutschland hat Tango immer mal wieder seismographisch
auf unterbewusste Prozesse im kollektiven Gefühlsraum der von politischen
Geschehnissen betroffenen Menschen reagiert und seine Ausdrucksmöglichkeiten zur
Verfügung gestellt.
Wenn auch nur als Zitat und in einem völlig anderen, aber ebenso
starken musikalischen Zusammenhang findet sich eine deutsche
Tangomelodie aus den 30er Jahren in dem griechischen Film REMBETIKO
(1983)59
REMBETIKO, R: Costas Ferris, M: Stavros Xarchakos, Griechenland 1983.
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Obwohl der Film von der Rembetiko-Musik und ihren Musikern handelt – eine ebenfalls
von politischer Unterdrückung und Exilerfahrung durchzogenen musikalischen Szene -
taucht gelegentlich und gleichwohl überraschend in dieser von Trauer und Melancholie,
Wut und Verzweiflung aufgeladenen Musik- und Handlungsatmosphäre des Films
eine »deutsche« Melodie auf (komponiert vom Schöpfer der HJ-Hymne, H.O.
Borgmann), der »Tango notturno« (aus dem gleichnamigen UFA-Film von
1937)
60
TANGO NOTTURNO, R: Fritz Kirchhoff, M: Hans Otto Borgmann, D 1937.
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ein griechischer Straßenmusiker spielt ihn, quasi als deutsche Gegenmusik zu Rembetiko,
als Begleitmusik zur deutschen Besetzung Griechenlands, zugleich aber auch als ein von
draußen hereinwehender Kontrapunkt zu einem erheblichen Streit zwischen einem Paar
der Filmhandlung (Babis und Marika). Die deutsche Melancholie der Vorkriegszeit
erweist sich als eine sehr passende Interjektion im Rembetiko-Zusammenhang. Zu dem
offiziellen Getöse der Wochenschauaufnahmen aus Nazi-Deutschland, die der Film kurz
kompiliert, kündet diese Tango-Replik von einem anderen, vielleicht angstvollen
Gefühlsstrom zwischen kollektiven Gefühlsregionen sowohl der Griechen wie der
Deutschen in dieser Zeit.
Deutsche Besatzer beim Tango zeigt auch Ettore Scolas Film LE BAL
(1983)61
LE BAL, R: Ettore Scola, M: Vladimir Cosma, Jacques Bense, IT/F/ALG 1983.
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In dem Pariser Tanzsaal, dem einzigen, durch die wechselnden Jahrzehnte sich
verändernden Handlungsort, treffen sich Singles zum Tanzen. Gesprochen wird nicht,
allein die Musik, das Ambiente, die Kleidung und die Körpersprache der Akteure
erzählen die Geschichte dieser »einsamen Herzen«, der kleinen Leute beim Tanzen, und
wie sich alles beim Gang durch die Jahrzehnte verändert.