- 365 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (364)Nächste Seite (366) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

gewählt, sondern der alte nordamerikanische Musical-Tango »Hernando’s Hideaway« (!), und zwar in Debelah Morgans Fassung »Dance with me« (aus den letzten Chorus-Wiederholungen). Gleichwohl tanzen die Paare im argentinischen Stil, professionell und virtuos.

Die Dramaturgie verfolgt eine Parallelmontage zwischen Tanzaktionen und Chérie-Kirschen. Die Visualisierung lässt (in 34 Einstellungen während 28 Sekunden) bestimmte Perspektiven hervortreten: Details zum Einschnappen des »roten Herings« (Augen der Tänzerin <==> zwei Kirschen, Tanzpaar <==> zwei sich drehende Kirschen), Naheinstellung der Paare zur Verstärkung der wechselseitigen Kommunikation, (auch mit der Praline!), amerikanische Einstellung bei aktionsreichen Figuren. Die Tänzerin fungiert als Mittlerin zur Werbebotschaft, sie verspeist eine Kirsche, dann auch eine »Mon Chérie«. Und obwohl die visuelle Sphäre ganz der derzeitigen Tangostilistik verschrieben ist – argentinische Tanzbasis, virtuose Körperaktionen, Leidenschaft, Schönheit, rot und schwarz, dominierende Körperlichkeit –, so vermittelt doch die Musik eine Brücke zur Discokultur, zur Massenmusik.

In früheren Zeiten hätten diese Sachverhalte als Indizien für eine Ausbreitung des Tangotanzens in den Massenmarkt gesehen werden können (so wie nach dem 1. Weltkrieg). Heute jedoch scheint eher die massenhafte Verbreitung von »Mon Chérie« die praktische Konsequenz der Botschaft zu sein. Und, abgeleitet aus den Schwerpunktsetzungen der Visualisierung: Leidenschaft, Mode, Schönheit, Körperlichkeit als Kontexte des Werbeobjekts.

Ein Vergleich des Tango-Gebrauchs in den 80er Jahren mit der heutigen Praxis lässt interessante Veränderungen erkennen. Der alte Tango wird in den neueren Beispielen musikalisch »modernisiert«, allerdings im Sinne der populären Massenmusik; der Tango nuevo, jene musikalische Sensation der frühen 80er Jahre, wird nicht mehr bemüht, seine musikalischen Qualitäten und Möglichkeiten werden ignoriert: die Einbindung in die Disco-Musiklandschaft scheint wichtiger, offenbar dem Werbezweck adäquater. Ein Rest der Tangoatmosphäre wird im Falle »Mon Chérie« eher über das Ambiente und die Tanzaktionen vermittelt. Und dieser Abglanz aus bürgerlich-intellektuellen Kulturpraktiken bietet wohl dieselbe Anmutung und Prestigesuggestion wie Tennis- oder Golf-Szenen, die vom interessanten Leben anderer Milieus in der Gesellschaft künden, zu denen der Gebrauch des jeweiligen Werbeobjekts vielleicht eine Brücke schafft, zumindest ein Gefühl davon.

Auch die in den drei Beispielen gezeigten Tanzaktionen bleiben im Grunde dem heute modischen »argentinischen« Tangotanzen fern. Allzu diskontinuierlich vermitteln die Visualisierungen nur Ahnungen von Tanzabläufen, nur fragmentarisch erscheint – wenn überhaupt – »Tango«, möglicherweise eine mediale Isomorphie zu Disco-Tanzpraktiken. Insgesamt also eine Montage von Detailmaterial


Erste Seite (1) Vorherige Seite (364)Nächste Seite (366) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 365 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben