Es drückt sich in Henzes Lied
Heimkehr eine Verzagtheit aus, die in einer tiefen
Enttäuschung über den Zustand der Welt ihren Grund hat. So wie die Künstler der
Romantik unter den Verhältnissen in der Restaurationszeit im frühen 19. Jahrhundert
litten, so trauerte Henze über das Erstarken der reaktionären Kräfte gegen die
emanzipatorischen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (Vietnam-Krieg,
Militärputsch in Chile, Attentate gegen Martin Luther King, Che Guevara, Rudi
Dutschke). Alle große Kunst speist sich aus der »Sehnsucht der Menschheit nach ihrer
zukünftigen Gestalt«, hat Arnold Schönberg mit Bezug auf Gustav Mahler
gesagt
19
Arnold Schönberg, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hg. von Ivan Vojtìch, Frankfurt
a. M. 1976, S. 18.
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Ebenso möchte Henze trotz aller Verzweiflung über das, was der Mensch dem
Menschen immer wieder antut, mit seiner Musik Hoffnung verbreiten, »vielleicht
nur einen schwachen Strahl Hoffnung, eben so viel, um dem Pessimismus
nicht anheimzufallen, der so verderblich ist wie jede andere Form der
Frivolität«
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Musik und Politik, a. a. O. (s. Anm. 9), S. 258.
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In der Romantik war dieser Wunsch nach »Heimkehr« in eine befriedete Welt
besonders ausgeprägt. Der Dichter Jean Paul traute es insbesondere auch
der Musik zu, diese Sehnsucht des Menschen auszudrücken. In dem großen
kulturgeschichtlichen Essay
Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele beschreibt
Jean Paul anfangs des 19. Jahrhunderts das höhere Vermögen der Musik als
»Kraft des Heimwehs, nicht jenes nach einem alten verlassenen Lande, sondern
nach einem unbetretenen, nicht nach einer Vergangenheit, sondern nach einer
Zukunft.«
21
Jean Paul, Selina, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Preußischen Akademie, Band
II/4, S. 316.
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Sofern ein solches »Heimweh nach der Zukunft« ein Merkmal romantischer
Kunstauffassung sein sollte, könnte man Hans Werner Henze (und mit ihm viele
Künstler unserer Zeit) am Ende vielleicht doch als ,Romantiker des 20. Jahrhunderts‘
ansehen.
ANHANG
Percy Bysshe Shelley, Ode to the West Wind
I | 1 | O wild West Wind, thou breath of Autumn’s being, |
| | Oh wilder Westwind, du Atem von herbstlicher Art, |
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| 2 | Thou, from whose unseen presence the leaves dead |
| | du, von dessen unsichtbarer Anwesenheit die toten Blätter |
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| 3 | Are driven, like ghosts from an enchanter fleeing, |
| | getrieben werden, wie Geister, die vor einem Zauberer fliehen, |
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