Es gibt eine Komposition von Henze, in der seine Affinität zum romantischen Denken
und Fühlen besonders deutlich wird. Sie stammt aus dem Zyklus Voices, den Henze
einmal als den 22fachen Versuch, ein politisches Lied zu schreiben, bezeichnet hat. Es ist
das Lied Heimkehr auf ein Gedicht von Heinrich Heine.
Die Heimkehr Am alten grauen Turme
Er spielt mit seiner Flinte,
Das Lied verbreitet eine ganz eigentümliche Stimmung. Sie erinnert ein wenig an Robert Schumanns Eichendorff-Lied Zwielicht aus dem Liederkreis op. 39. Das Zwielichtige rührt bei Henzes Lied – anders als bei Schumann – von der Vermischung verschiedener historischer Zustände her. Ein schlichter Volksliedton, der ja auch in Heines Gedicht angeschlagen wird und der sich melodisch in Anspielungen an Volksweisen »Ich hab die Nacht geträumet« oder »Da droben auf dem Berge« zeigt, repräsentiert das frühe 19. Jahrhundert. Ein melancholischer Ländlerrhythmus und einfache Begleitfiguren verweisen auf die Zeit um 1900, vertreten durch Gustav Mahler (z. B. seine Wunderhorn-Lieder). Die jüngere Musikgeschichte ist in dem Vorspiel zu den beiden Liedstrophen einkomponiert: Wozzeck-Akkorde an den Hauptzäsuren, wechselnde Taktarten mit fast aufgehobenen Akzentstufen, frei atonale harmonische Verläufe bestimmen es. Die Hand des Komponisten und damit die Gegenwart der 1970er Jahre zeigt sich schließlich in der unkonventionellen Anlage des Liedes: Ein überlanges Instrumentalvorspiel verhält sich bewußt disproportional zu den Liedstrophen, es weckt eine Erwartung, die gerade nicht erfüllt wird, weil das Lied viel schlichter gesetzt ist als das einleitende ,Lied ohne Worte‘. Es ist, als ob der Komponist die Welt Heinrich Heines nur vorzeigen, nicht aber antasten wollte. Dazu stimmt auch, daß die Pointe des Gedichts: »Ich wollt, er schösse mich tot« keinen Niederschlag in der Partitur findet, sondern von der strengen Strophenform zugedeckt bleibt.18
|