| | | | | | | | | | | | | dessen Wahrheit und die ganze Haltung des
Dichters der Entstehungszeit verhaftet sind. Henzes Musik spricht die Sprache des 20.
Jahrhunderts. Ihre Dodekaphonie, ihr an Strawinsky geschulter Orchesterklang, die
Komplexität ihrer Harmonik, Rhythmik und Melodik lassen daran keinen Zweifel.
Henzes Komposition erscheint als Musik über ein romantisches Gedicht, sie ist
nicht einfach dessen Vertonung. Als Cellokonzert hat Henzes Musik eine eigene
Wahrheit, die sich nur zum Teil mit der Wahrheit des Gedichts deckt. Henzes
Gedanke, daß es darum gehe, das Vergangene zu beeinflussen, sich dem Heutigen
anders darzustellen als dem Gestrigen, scheint hier seine Erfüllung gefunden zu
haben.
Man kann dieses liebende und zugleich distanziert betrachtende Verhältnis
zur romantischen Literatur an allen Werken Henzes beobachten, die auf
entsprechenden Bezugstexten basieren. Mit Bezug auf Undine hat Henze
seine diesbezüglichen Überlegungen in einem Tagebuch eines Balletts
niedergelegt16
Hans Werner Henze, Undine. Tagebuch eines Balletts, München: Piper 1959, S. 57.
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Was ist Undine? Wie ist es möglich, in einer modernen Großstadt (im
Hintergrund der Glaspaläste noch die Trümmer der Katastrophe), in einem
modernen Gehirn, gewöhnt an das rationale Denken zwischen Benzintanks
und elektrischen Geräten, sich plötzlich an das alte Märchen zu erinnern?
Aber ist Undine nur eine Märchenfigur, entfernt sie uns von der Rationalität,
trägt sie uns aus dieser Zeit fort – oder existiert sie wirklich zeitlos,
ein Geistchen, ein Gefühl von Schwerelosigkeit, ein Rest von Zartheit,
der sich erhalten hat und dessen Wahrnehmung als eine nur kleine
Ursache unerwarteterweise größere Folgen nach sich zieht? Wie in ihrer
Märchenwelt, wo der Kontrast zwischen heiß und kalt die Spannungen
hervorrief, die Trennung von Festland und Wasser, von Gegenständlichem
und Erahnbarem, ist ihre Gegenwart in einem heutigen Bewußtsein der
Auslöser von Spannungen zwischen Härte und Zartheit, Stahl und Seide,
Roheit und Empfindlichkeit, großstädtischem Massenpathos und einsamen
Verlorenheiten. Verlockung und Irrlicht in einem, hat ihr Wesen etwas von
der Klarheit der Kristalle, in der sich Jahrhunderte spiegeln und ineinander
übergehen.
Auch bezüglich der Kleist-Oper Der Prinz von Homburg äußerte sich
Henze über die Spannung von vergangenem Sujet und gegenwärtigem
Empfinden17
Hans Werner Henze, Der Prinz von Homburg, Erstdruck in: Programmheft der
Hamburgischen Staatsoper zur Uraufführung am 22. 5. 1960, S.121–128.
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Der Prinz von Homburg, unser tapferer Vetter, der traumwandelnde junge
Herr, ein mit feurigen Zungen Redender, ein deutscher Hamlet, mit dem
Leben wie mit dem Tode spielend – das ist der Held meiner neuen Oper.
Manch einer mag sich wundern, daß ich diesen Stoff gewählt habe. Es gibt
vielleicht einige Argumente dagegen. Oberflächliche Leser oder Besucher
von Theateraufführungen im »Geist des Tausendjährigen Reiches« denken
bei diesem Stück noch an die Verherrlichung des Militarismus und an
Kadavergehorsam, andere wieder sind außerstande, das Werk von seinem
preußischen ambiente zu trennen.
[...]
Mein »Prinz von Homburg« enthält, unter Zuhilfenahme des Dichters Kleist,
eine Äußerung zu unserer Gegenwart, beantwortet und stellt Fragen und,
da es sich um Theater handelt, nicht nur rein musikalische, sondern auch
solche um unser Leben, unsere Zeit, ihre Wirklichkeiten und unwirklichen
Realitäten. Diese Aussagen, diese Fragen zu hören oder zu überhören, ist
jedem überlassen, aber sie sind da und wollen und können vernommen
werden.
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