- 340 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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dessen Wahrheit und die ganze Haltung des Dichters der Entstehungszeit verhaftet sind. Henzes Musik spricht die Sprache des 20. Jahrhunderts. Ihre Dodekaphonie, ihr an Strawinsky geschulter Orchesterklang, die Komplexität ihrer Harmonik, Rhythmik und Melodik lassen daran keinen Zweifel. Henzes Komposition erscheint als Musik über ein romantisches Gedicht, sie ist nicht einfach dessen Vertonung. Als Cellokonzert hat Henzes Musik eine eigene Wahrheit, die sich nur zum Teil mit der Wahrheit des Gedichts deckt. Henzes Gedanke, daß es darum gehe, das Vergangene zu beeinflussen, sich dem Heutigen anders darzustellen als dem Gestrigen, scheint hier seine Erfüllung gefunden zu haben.

Man kann dieses liebende und zugleich distanziert betrachtende Verhältnis zur romantischen Literatur an allen Werken Henzes beobachten, die auf entsprechenden Bezugstexten basieren. Mit Bezug auf Undine hat Henze seine diesbezüglichen Überlegungen in einem Tagebuch eines Balletts niedergelegt16

16
Hans Werner Henze, Undine. Tagebuch eines Balletts, München: Piper 1959, S. 57.
: Was ist Undine? Wie ist es möglich, in einer modernen Großstadt (im Hintergrund der Glaspaläste noch die Trümmer der Katastrophe), in einem modernen Gehirn, gewöhnt an das rationale Denken zwischen Benzintanks und elektrischen Geräten, sich plötzlich an das alte Märchen zu erinnern? Aber ist Undine nur eine Märchenfigur, entfernt sie uns von der Rationalität, trägt sie uns aus dieser Zeit fort – oder existiert sie wirklich zeitlos, ein Geistchen, ein Gefühl von Schwerelosigkeit, ein Rest von Zartheit, der sich erhalten hat und dessen Wahrnehmung als eine nur kleine Ursache unerwarteterweise größere Folgen nach sich zieht? Wie in ihrer Märchenwelt, wo der Kontrast zwischen heiß und kalt die Spannungen hervorrief, die Trennung von Festland und Wasser, von Gegenständlichem und Erahnbarem, ist ihre Gegenwart in einem heutigen Bewußtsein der Auslöser von Spannungen zwischen Härte und Zartheit, Stahl und Seide, Roheit und Empfindlichkeit, großstädtischem Massenpathos und einsamen Verlorenheiten. Verlockung und Irrlicht in einem, hat ihr Wesen etwas von der Klarheit der Kristalle, in der sich Jahrhunderte spiegeln und ineinander übergehen.

Auch bezüglich der Kleist-Oper Der Prinz von Homburg äußerte sich Henze über die Spannung von vergangenem Sujet und gegenwärtigem Empfinden17

17
Hans Werner Henze, Der Prinz von Homburg, Erstdruck in: Programmheft der Hamburgischen Staatsoper zur Uraufführung am 22. 5. 1960, S.121–128.
: Der Prinz von Homburg, unser tapferer Vetter, der traumwandelnde junge Herr, ein mit feurigen Zungen Redender, ein deutscher Hamlet, mit dem Leben wie mit dem Tode spielend – das ist der Held meiner neuen Oper. Manch einer mag sich wundern, daß ich diesen Stoff gewählt habe. Es gibt vielleicht einige Argumente dagegen. Oberflächliche Leser oder Besucher von Theateraufführungen im »Geist des Tausendjährigen Reiches« denken bei diesem Stück noch an die Verherrlichung des Militarismus und an Kadavergehorsam, andere wieder sind außerstande, das Werk von seinem preußischen ambiente zu trennen.

[...]

Mein »Prinz von Homburg« enthält, unter Zuhilfenahme des Dichters Kleist, eine Äußerung zu unserer Gegenwart, beantwortet und stellt Fragen und, da es sich um Theater handelt, nicht nur rein musikalische, sondern auch solche um unser Leben, unsere Zeit, ihre Wirklichkeiten und unwirklichen Realitäten. Diese Aussagen, diese Fragen zu hören oder zu überhören, ist jedem überlassen, aber sie sind da und wollen und können vernommen werden.


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