- 337 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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O wild West Wind, thou breath of Autumn’s being
Oh wilder Westwind, du Atem von herbstlicher Art

Gleichzeitig wird in den Orchesterviolinen die zweite Zeile vorgetragen, was der entsprechenden Eintragung in der Partitur zu entnehmen ist:

Thou, from whose unseen presence the leaves dead are driven
du, von dessen unsichtbarer Anwesenheit die toten Blätter getrieben werden

Am Ende des ersten Satzes finden sich die Schlußverse der ersten Ode wiederum über der Stimme des Solocellos, jetzt allerdings in einer Rhythmisierung, die weder liedhaft ist noch die Prosodie des Textes erkennen läßt. Gleichzeitig mit den Schlußklängen des Cellos sind wieder die Orchestergeigen zu hören. Sie wiederholen ihre Anfangsmelodie, diesmal in rückläufiger Folge, weswegen der Text des zweiten Verses noch einmal eingetragen ist, nun aber über Kopf von rechts nach links.

An einem Ausschnitt aus dem 4. Satz kann man erkennen, bis zu welcher Komplexität die Arbeit mit inhaltlich gebundenen musikalischen Einheiten führen kann. Zum einen ist hier die 12. Zeile des vierten Sonetts zu lesen, die an dieser Stelle dem Fortgang des Gedichts entspricht. Sie lautet:

I fall upon the thorns of life! I bleed!
Ich sinke auf die Dornen des Lebens! Ich blute!

Außerdem hat Henze vier weitere Gedichtzeilen notiert, die als verbale Reminiszenzen zugleich musikalische Reminiszenzen bedeuten. Sie stammen aus der ersten, zweiten und vierten Ode. Dem verzweifelten Ausruf des lyrischen Ichs stellt der Komponist, der die Rolle eines musikalischen Ichs einnimmt, andere Inhalte zur Seite, die die Heftigkeit des Gefühls unterstreichen: dunkle Wolken, Gewitter und Regen, die Unberechenbarkeit des Westwinds.

Die Anlage des Sonettenzyklus ist, wie erwähnt, durch einen Einschnitt zwischen dem dritten und vierten Sonett gekennzeichnet. Denn die Sonette I bis III beschreiben den Westwind als Naturgewalt, die Sonette IV bis V besingen den Dichter als Propheten. Daß Henze diese inhaltliche Zäsur, die ja mit der erstmaligen Einführung eines Subjekts: “If I were a dead leaf. . . ” am Beginn von IV einhergeht, wahrgenommen hat, zeigt die Musik. Während die ersten drei Sätze allgemeine musikalische Charaktere ausbilden, nämlich »Calmo«, »Vivo« und »Tranquillo«, sind im vierten und fünften Satz gesellschaftlich konnotierte musikalische Charaktere zu hören: ein feierlicher Marsch (“Al tempo di una marcia solenne”) und ein Hymnus (“Come un inno”).

Am fünften und letzten Satz von Ode an den Westwind läßt sich zeigen, daß Henze das Gedicht von Shelley nicht nur musikalisch umsetzt, sondern auch


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