- 336 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (335)Nächste Seite (337) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Wenn im Artikel Programmusik in der Neuausgabe von Die Musik in Geschichte und Gegenwart festgestellt wird, daß die Programmusik im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts »endgültig ihre Bedeutung als Musik der Avantgarde« verloren habe,14
14
Detlef Altenburg, Programmusik, Artikel in 2MGG, Sachteil, Band 7, Kassel usw. 1997, Sp. 1842.
dann wurde leider versäumt, den diesbezüglichen Beitrag Hans Werner Henzes und einiger anderer Komponisten des 20. Jahrhunderts – zu denken wäre z. B. an K. A. Hartmann, Messiaen, Nono – zur Kenntnis zu nehmen. Überblickt man alle Instrumentalkompositionen, in denen Henze bestimmte Sujets verarbeitet, so springt der große Anteil an dichterischen Vorlagen ins Auge. Sujetgebundene Instrumentalwerke verteilen sich über das gesamte Schaffen Henzes und bilden eine markante personalstilistische Komponente.

Die Partitur von Henzes Ode an den Westwind mit dem Untertitel »Musik für Violoncello und Orchester nach Percy Bysshe Shelley 1792–1822«, gibt im Vorspann das vollständige Gedicht in der Originalsprache wieder. In der gedruckten Partitur gibt es sonst keine Hinweise auf Shelleys Gedicht. Als ich mir vor einigen Jahren die autographe Reinschrift der Partitur in der Paul Sacher Stiftung in Basel ansah, stellte ich aber fest, daß Henze die Verse von Shelleys Ode komplett zwischen die Notensysteme eingetragen hatte.15

15
Siehe dazu den Hinweis Henzes in den Reiseliedern (a. a. O. [s. Anm. 13], S. 507 f.), daß er die Verse am liebsten auch in der gedruckten Partitur gesehen hätte, was aber nicht verwirklicht wurde.
Es zeigte sich sofort, daß sich die Großform der Ode, bestehend aus fünf englischen Sonetten, in der Gliederung des Cellokonzerts, bestehend aus fünf Sätzen, widerspiegelt. Die Reim- und Versform der einzelnen Sonette, die in diesem Fall aus vier Terzinen mit einem schließenden Zeilenpaar gebaut und nach einem enjambierenden Kreuzreimschema gereimt sind, wird dagegen zugunsten von motivisch-gedanklichen Sinneinheiten preisgegeben. Auch greift Henze bei seinen Eintragungen, denen natürlich musikalische Sektionen entsprechen, gelegentlich auf einzelne Verse vom Anfang eines Sonetts oder sogar aus früheren Sonetten des Zyklus zurück.

Henze erweist sich als genauer Leser des Textes. Mehr noch: Er reflektiert gleichzeitig über das Gelesene und drückt die Gedanken in seiner Musiksprache aus. Diese Sprache ist sehr persönlich. Sie verzichtet auf tonale Zentren, verschmäht aber nicht terzgeschichtete Akkorde. Sie ist mit Taktstrichen notiert, ohne den Takt immer hörbar werden zu lassen. Man merkt ihr den Zeitstil der frühen 1950er Jahre an, in denen die Klassiker der Moderne wie Schönberg und Strawinsky, Berg und Bartók erst noch zu entdecken waren – zumindest in Deutschland.

Der erste Satz beginnt, als sänge der Cellist auf seinem Instrument ein Lied. Über der Stimme des Solocellos ist folglich die erste Zeile notiert:


Erste Seite (1) Vorherige Seite (335)Nächste Seite (337) Letzte Seite (435)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 336 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben