- 338 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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seine Position dem Gedicht gegenüber kenntlich macht. Die ersten Worte des fünften Sonetts: “Make me thy lyre” – Mach mich zu deiner Lyra! werden in ein Klangzeichen umgeformt, das die Gestalt eines nonverbalen Rufs hat: vier Silben, vier Akkorde. In der zweiten Sinneinheit des Sonetts (Zeile 3–6) ist von einem tiefen, herbstlichen Ton (“a deep, autumnal tone”) die Rede, und Henze läßt es sich nicht nehmen, von hier an bis zum Schluß des Satzes einen tiefen Orgelpunkt auf dem Ton Cis erklingen zu lassen. Über diesem Basisklang wird allerdings in metrisch aufgelösten Klangfeldern dem Gedanken “Sweet though in sadness” – süß, wenngleich voll Trauer improvisationsartig Raum gegeben. In der dritten Sinneinheit (Zeile 7–11) bricht die Hoffnung des Dichters, mit seinen Versen die ganze Menschheit erreichen und bewegen zu können (“my words among mankind!”), mächtig hervor. Auf diesen pathetischen Gestus reagiert Henze wiederum adäquat, indem er, angeführt vom Solocello, einen erhabenen Gesang anstimmen läßt, der, von dichten Akkordflächen unterstützt, sich auf eine Klimax hin bewegt, auf deren Zenit das Wort “mankind” – »Menschheit« zu denken ist. Mit der vierten Sinneinheit (Zeile 12–14) erreicht das Gedicht und damit die gesamte Ode endlich den Höhepunkt in dem Ruf nach neuem Leben: “can Spring be far behind?” – kann der Frühling da sehr weit sein?

An dieser Stelle weicht Henze nun von der emotionalen Kurve, die der Dichter bilderreich beschreibt, ab. Das Akkordmotiv “Make me thy lyre”, das den Satz in einer prächtig instrumentierten Fassung eröffnet hatte, kehrt wieder. Die Akkorde sind in ihren Tonhöhen und Oktavregister nicht verändert, ihr Klang wird allerdings ins Pianissimo zurückgenommen. Auch die Musik zu den emphatischen Worten “The trumpet of a prophecy!” – Die Trompete einer Prophezeiung! erklingt ganz leise und wispernd. Ganz am Ende des Satzes kehren die Akkorde nochmals wieder und werden nun sogar bis ins vierfache Piano gedämpft, verbunden mit der Preisgabe des skandierenden Rhythmus, der den Worten “Make me thy lyre” abgelauscht war. Diese Zurücknahme des Pathos, die in Shelleys Gedicht kein Gegenstück hat, kann als Stellungnahme des Komponisten gelesen werden, dessen Liebe zwar dem revolutionären Romantiker gilt, der nach der Erfahrung der jüngsten Geschichte – das Ende des 2. Weltkriegs lag gerade sieben Jahre zurück – aber die zukunftsfrohe Haltung des Dichters nicht mehr sich zu eigen machen konnte.


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