- 335 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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my lips to unawakened earth / The trumpet of a prophecy!” – Sei durch meine Lippen für die noch nicht erwachte Erde die Trompete einer Prophezeiung!: Hier nimmt der Dichter den Odem des Westwinds gleichsam in sich auf, um mit eigener Lippen Kraft sein Lied der Hoffnung und des Versprechens zu blasen. Die Wiedergeburt der Natur im Frühling und die Erneuerung der Gesellschaft (“my words among mankind!”, V, 11) fallen in einer Zukunftsperspektive zusammen.

Wann Hans Werner Henze Shelleys Ode to the West Wind kennengelernt hat, ist nicht bekannt. Dagegen läßt sich die Entstehungszeit seines Cellokonzerts mit dem Titel Ode an den Westwind recht genau angeben. Begonnen wurde es im Herbst 1952 in München. Am Karfreitag, dem 3. April 1953, machte sich Henze während einer letzten Erkundungsreise nach Italien in Catania auf Sizilien an die Reinschrift der Partitur, die er nach mehreren Unterbrechungen, zu denen auch der Umzug von Deutschland nach Italien gehörte, am 15. August 1953 in Forio auf Ischia beendete.13

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Vgl. Hans Werner Henze, Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen 1926–1995, Frankfurt a. M. 1996, S. 131. Außerdem die Datierungen in der Reinschrift der Partitur von Ode an den Westwind in der Paul Sacher Stiftung in Basel.
Wie kein anderes Werk kommt der Ode an den Westwind eine Brückenfunktion zu, mit der Henzes ,erstes Leben‘ in der BRD mit seinem ,zweiten‘ – eigentlichen Leben in Italien verklammert wird.

Instrumentalmusik, die auf einen dichterischen Text bezogen ist – Henzes Cellokonzert ist so ein Werk –, gehört zur Gattung der Programmusik. Man denke nur an Liszts 1. Symphonische Dichtung, die Bergsymphonie über das Gedicht “ Ce qu’on entend sur la montagne ” – »Was man auf dem Berge hört« von Victor Hugo, um die Traditionslinie zu erkennen, an die Henze anknüpft. Trotz einer langen Reihe von Meisterwerken, die bei Berlioz, Liszt, César Franck, Smetana, Saint-Saëns, Tschaikowsky, Dvoøák, Richard Strauss, Grieg, Mahler, Debussy, Sibelius, Kœchlin, Reger, Skrjabin, Schönberg, Bartók, Berg zu finden sind, herrscht in Musikwissenschaft und Musikkritik – weniger dagegen bei Musikern und Publikum – auch heute noch das Vorurteil, daß Programmusik zu den mediokren Gattungen zähle, weil sie die Reinheit der Tonkunst verletze, sich auf außermusikalische Vorstellungen einlasse, kurz gesagt: nicht autonom sei. Es genügt allerdings, auf die Geschichte von Oper, Oratorium, Passion, Kantate, Lied und Ballett zu verweisen, um solche Ansichten zu entkräften. In diesen, ebenfalls plurimedialen Gattungen wird die besondere Spannung, die aus der Verbindung von Musik mit dem Wort, der Szene, der Aktion von Schauspielern und Tänzern, der Ideenwelt von Literatur, Religion und Philosophie entsteht, allenthalben geschätzt. Warum sollten bei der Programmusik andere Maßstäbe gelten? Und warum sollte das plurimediale Kunstwerk nicht Autonomie beanspruchen können?


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