- 334 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Oh, Wind, wenn der Winter kommt, kann der Frühling da sehr weit sein? (V, 13, 14) Der Westwind wird als Prophet einer Neugeburt (V, 8, 13) aus dem Schoß des winterlichen Grabs (I, 6, 8), in dem die toten Blätter und starren Keime (I, 2, 7; IV, 1; V, 8) liegen, gefeiert. Er ist “Destroyer and preserver” – Zerstörer und Bewahrer (I, 14) im ewigen Wechsel. In diesem Kreislauf wird allerdings ein zeitlicher Ort fixiert, von dem aus der Dichter das Wirken des Westwinds beschreibt: Es ist der Herbst, also die Heimatzeit des Westwinds. Nur durch diese Positionierung im Jahreszeitenzyklus kann der Dichter eine klare Perspektive auf die Zukunft gewinnen, das heißt: auf den Frühling.

Der größte Teil des Sonettenzyklus widmet sich der Beschreibung dessen, was der Westwind bewirkt. In Natur und Landschaft ist sein dynamisches Potential direkt zu beobachten. Im ersten Sonett sind es die Blätter, die vom Wind übers Land getrieben werden. Im zweiten Sonett werden die Wolken vom Wind verwirbelt, der hier zum Gewittersturm anschwillt. Im dritten Sonett wird der Leser zu den Wellen geführt, deren aufgeregtes Treiben der Westwind verursacht. Mit den Motiven Blätter, Wolken und Wellen, die in den ersten drei Zeilen des vierten Sonetts noch einmal nebeneinander gestellt werden, ist zugleich die Dreiheit von Erde, Himmel und Wasser konstituiert. In diese naturhafte Szenerie tritt nun der Mensch ein. Nachdem in dreimal vierzehn Versen ausschließlich die zweite Person als Anredeform des als Gottheit gedachten Westwinds gebraucht wurde: “thou breath of Autumn’s being” – du Atem von herbstlicher Art (I, 1), wobei jedes Sonett mit der Anrufungsformel »Höre, oh höre!« beendet wird, erscheint mit der ersten Zeile des vierten Sonetts erstmals ein Ich. Der Dichter, als welcher sich das lyrische Ich zu erkennen gibt, möchte teilhaben an der Dynamik des Windes. Er wünscht sich, vom Westwind bewegt zu werden, um selber die Menschen bewegen zu können. “Oh, lift me as a wave, a leaf, a cloud!” – Oh, erhebe mich als eine Welle, ein Blatt, eine Wolke!, ruft er im Gebet aus. Im letzten Sonett bricht es schließlich aus ihm heraus: “Be thou, Spirit fierce, / My spirit! Be thou me, impetuous one!” – Sei du, heftiger Odem, meine Seele! Du sollst ich sein, du Ungestümer! (V, 5, 6)

Hier, im fünften Sonett, findet das Gleichnis schließlich seine Auflösung. Was für den Westwind die Blätter des Waldes oder die Funken eines nicht erloschenen Herdes sind, sind für den Dichter die Worte, Gedanken und Verse. Diese sollen von einem Sturm des Geistes über das Land getrieben und unter den Menschen verstreut werden so wie der Westwind Laub und Asche vor sich her treibt. Mit zwei metaphorisch eingeführten Musikinstrumenten wird noch einmal die zweifache Rolle des Dichters als eines, der bewegt wird, und eines, der Bewegung weitergibt, ins Bild gefaßt: “Make me thy lyre, even as the forest is” – Mach mich zu deiner Lyra, so wie der Wald eine [Lyra] ist (V, 1); hier wird der Dichter als ein die Kraft Empfangender symbolisiert, indem der Wald mit seinen Stämmen und Zweigen den Saiten einer Lyra (oder einer Äolsharfe), die vom Wind allein zum Klingen gebracht werden, gleichgesetzt wird. “Be through


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