- 331 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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1812 erschienenen Gesängen Child Harold’s Pilgrimage wurde ein neuer Heldentyp geboren, dessen Weltschmerz-Pose in Verbindung mit individuell-revolutionärem Aufbegehren sogar Goethe veranlaßte, ihm im 2. Teil des Faust in der Figur des Euphorion ein Denkmal zu setzen. Auch Hector Berlioz, wie die meisten Intellektuellen vom »Byronismus« infiziert, reagierte künstlerisch auf den englischen Romantiker, indem er eine Programm-Sinfonie mit Solo-Bratsche über Byrons Harold-Epos komponierte. Es mag mit der Sehnsucht nach einer verloren geglaubten Schönheit zu tun haben, daß sowohl Byron als auch die nicht weniger bedeutenden romantischen Dichter Percy Bysshe Shelley und John Keats sich nach Italien hingezogen fühlten. Die großen Oden von Shelley und Keats finden zu einem ungebrochenen, emphatischen Ton, der die Schönheit der Natur in eins mit den Idealen der französischen Revolution preist und somit Schiller näher zu sein scheint als der Romantik in deutscher Auslegung.

Wie man sieht, läßt sich kaum von »der« Romantik sprechen, sondern allenfalls von verschiedenartigsten Ausprägungen einer romantischen Haltung, die sich in Europa seit etwa 1790 in Reaktion auf die problematischen Folgen der französischen Revolution zeigte. Kommen wir nun auf Hans Werner Henze zurück und auf unsere Frage nach dessen Verhältnis zur Romantik. Als Henze sich 1959 veranlaßt sah, auf den Vorwurf des »Romantizismus«, der gegen sein Werk gerichtet wurde, zu reagieren, wehrte er sich in Form eines durchaus polemisch formulierten Gegenangriffs: Dieser Verdacht [dem Romantizismus verfallen zu sein] ist schon deshalb so schwer abzuwehren, weil das Kennwort »Romantik« selbst von Nebelschwaden umgeben, von Wagner-Tuben umtönt ist und daher schlecht präzisiert werden kann. Man weiß also gar nicht, ob der Verdacht, wenn er sich bestätigen sollte, einem sehr mißfallen würde, besonders wenn sich herausstellte, daß es sich bei der gemeinten Romantik nicht um eine weltweite Krankheitsform handelt, sondern um die präzisen Bereiche, aus denen Menschen und Leistungen hervorgegangen sind wie Rimbaud, Verdi und der Sozialismus, also nicht um jene volkstümlichere Heimstätte für Schwärmer, deren Begeisterung für das Ungenaue keine Grenzen kennt. Denn das sind unzeitgemäße, träumende Romantiker, die auf die geistigen und politischen Realitäten des heutigen Zustandes nicht einzugehen vermögen oder nicht eingehen wollen und die über Fetischen und technologischen Details das Eigentliche vergessen, der Begegnung mit den Wirklichkeiten aus dem Wege gehen und so in schwärmerischer Weise zu Buddha, Jesus oder zum Zupfgeigenhansl kommen, wo allerdings von musikalischen Schwierigkeiten nicht mehr geredet werden muß.9

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Hans Werner Henze, Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984, München: dtv 1984, S. 59 f.

Der unüberhörbare Zorn Henzes richtete sich gegen die Vertreter einer doktrinären Avantgarde, die es ihm kurz zuvor in Donaueschingen so richtig gezeigt hatten. Zur Uraufführung standen Henzes Nachtstücke und Arien auf dem Programm, gesungen von der Sopranistin Gloria Davy und gespielt vom Südwestfunk-Orchester unter der Leitung von Hans Rosbaud. Vorne im Parkett hatten auch Henzes Komponistenkollegen Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und


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