- 312 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Im folgenden sei eine Auswahl aus den bisher 68 Annäherungen an Hyperions Schicksalslied vorgestellt; »Annäherungen«, wie schon erwähnt, deshalb, weil es sich gerade in der jüngsten Musikgeschichte, der wir uns hier vorwiegend zuwenden, weniger um »Vertonungen« im engeren Sinne handelt, sondern auch um rein instrumentale, elektronische, montageartige oder auch bruchstückhafte kompositorische Auseinandersetzungen mit dem Text und seinem Inhalt.

Sieht man einmal von dem »Vorläufer« Theodor Fröhlich ab, dessen Vertonung von 1830 für gut 120 Jahre nahezu unbekannt blieb, so kann man sagen, daß die Komposition von Johannes Brahms (1833–1897), sein Schicksalslied für Chor und Orchester op. 54 (1868–71), alle problematischen Aspekte einer Vertonung dieses Textes paradigmatisch aufzeigt, einer individuellen Lösung zuführt und damit einen Maßstab für alle späteren Vertonungen setzte, dem sich kaum ein Komponist entziehen konnte. Die Gegenüberstellung der beiden Sphären des Göttlichen und des Menschlichen charakterisiert Brahms auch musikalisch: die beiden ersten Strophen erklingen »Langsam und sehnsuchtsvoll« in einem getragenen 4/4-Takt, mit weit gespannten Melodielinien und ruhiger Harmonisierung; die dritte Strophe ist »Allegro« überschrieben, die Musik stürzt in einem unruhigen 3/4-Takt vorwärts, die Melodik ist eckig und abgerissen, am Höhepunkt auf die Worte »wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen« in einzelne, durch Pausen getrennte Silben aufgespalten, unter hemiolischer Umdeutung des 3/4-Taktes in einen 3/2-Takt. Der mit »Langsam und sehnsuchtsvoll« überschriebene Teil ist in drei Abschnitte untergliedert: eine Orchestereinleitung sowie die Vertonungen der beiden ersten Strophen, deren jeweiliger Beginn motivisch übereinstimmt, die sich aber durchaus unterschiedlich entwickeln. Um die Gesamtarchitektur auszubalancieren, wird im »Allegro«-Teil der Text insgesamt dreimal vorgetragen, wobei zwei Unisono-Abschnitte einen kanonischen einrahmen.

Wie aber enden? Um die Lösung dieses Problems hat Brahms, der sich seit dem Sommer 1868, als er das Gedicht kennenlernte, mit der Vertonung beschäftigte, lange gerungen. Ein Ende mit dem »Allegro«-Teil verbot sich nicht nur aus musikalischen Erwägungen hinsichtlich der Symmetrie des Ganzen, sondern für Brahms auch aus inhaltlichen Gründen: die schroffe Schicksals-Geworfenheit, wie er sie aus Hölderlins Text herauslas, war Brahms fremd; ihm fehlte hier die tröstende Perspektive, wie er sie kurz zuvor in seinem Deutschen Requiem überzeugend gefunden hatte. So entschloß er sich, das Werk mit der variierten Wiederaufnahme der orchestralen Einleitung – diesmal in C-Dur und »Adagio« statt in Es-Dur – zu beenden, ohne Text, quasi als komponierten Kommentar; den zwischenzeitlich gefaßten Vorsatz, die ersten Zeilen der ersten Strophe am Ende zu wiederholen, verwarf er erst kurz vor der Uraufführung. »Ich sage ja eben etwas, was der Dichter nicht sagt, und freilich wäre es besser, wenn ihm das Fehlende die Hauptsache gewesen wäre«, schrieb er an den befreundeten Bremer Domkantor Karl Martin Reinthaler (Floros 1997, 121). Und in der Tat


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