- 310 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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ja mehr noch, die zweite Strophe ist sozusagen der Angelpunkt, wo nicht nur eine geheime Vermittlung der beiden getrennten Sphären aufscheint, sondern letztlich auch eine Lösung des Konfliktes, den das Gedicht als Ganzes scheinbar unaufgelöst hinterläßt.

Die Charakterisierungen der göttlichen Sphäre in der zweiten Strophe offenbaren nämlich implizit etwas Fragwürdiges, äußern versteckt, aber mit zielsicherer Genauigkeit Kritik an dieser Sphäre und ebnen damit den Weg zu einer möglichen Lösung des Konfliktes. Der »schlafende Säugling« ist »schicksallos«, aber wie könnte er erwachsen werden, ohne sich seinem »Schicksal« zu stellen? Eine »keusche«, »bescheidene Knospe« ist noch nicht zur Blüte geworden, ist etwas Unerfülltes, nicht zur Bestimmung Gelangtes. Und der »Geist«, der »ewig blüht«, bleibt abstrakt, solange er nicht zur Tat fortschreitet, sein Gedachtes zu realisieren und zu überprüfen, produktiv zu machen sich anschickt. Die »stillen« Augen haben die Welt in ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit noch nicht wahrgenommen, obwohl die Bestimmung des Auges ja gerade darin besteht.

So enthüllt die zweite Strophe die Götterwelt als etwas Entwicklungsloses und damit Existenzloses. Die Erfüllung der »göttlichen« Potenzen läge, so ist die zweite Strophe zu verstehen, in der Menschwerdung der Götter, damit aber in ihrer Sterblichkeit; umgekehrt eröffnet das Einbringen jener göttlichen Eigenschaften in die Welt der Menschen auch diesen die Möglichkeit, mit ihrem Schicksal nicht mehr nur als bloß dessen Objekte, sondern produktiv umzugehen. Die zweite Strophe böte dann ex negativo den Schlüssel zum Umgang mit dem Widerspruch, auch wenn diese Lösung von Hölderlin nicht direkt verbalisiert wird – letzteres wird Johannes Brahms später vorsichtig kritisieren und darauf eine musikalische Antwort geben.

Und von hier aus bekommt auch die terrassenförmige graphische Notation des Gedichtes einen Sinn: sie bildet die Form, in welcher sich der Widerspruch der beiden Sphären bewegt. Der Terrassenbau zeigt nicht nur visuell das »Fallen« der Menschen wie »von Klippe zu Klippe«, sondern offenbart auch die Fragwürdigkeit der göttlichen Sphäre, die letztlich, wenn sie zur Existenz, zum »Schicksal« fortschreitet, die Sterblichkeit und das »Fallen« einschließt. In diesem Akzeptieren aber erhält der Mensch die Möglichkeit, in das »Schicksal« gestaltend einzugreifen.

Wenn diese Deutung aus dem reinen Gedichttext heraus noch nicht schlüssig genug erscheinen mag, so erweist sich ihre Stringenz, sobald man die Benutzung der hier vorkommenden Begriffe und Vorstellungen im Hyperion-Roman als Ganzem heranzieht.

»Eins zu sein mit Allem, was lebt! Mit diesem Worte legt die Tugend den zürnenden Harnisch, der Geist des Menschen den Zepter weg, und alle Gedanken


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