- 309 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Das Gedicht gliedert sich in drei reimlose Strophen zu sechs, neun und neun Zeilen. Die ersten beiden Strophen zeigen die Welt der Götter, der »Genien«, in ihrer unbeschwerten Heiterkeit und Schönheit; demgegenüber bildet die dritte Strophe schroff und erbarmungslos die Menschenwelt in ihrer leidenden Ungewißheit, »Geworfenheit« ab, aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt. Der antithetische Aufbau legt auch eine interpretatorische Gegenüberstellung der göttlichen und der menschlichen Sphäre nahe, zwischen denen es keine Vermittlung zu geben scheint. Ersterer wird eine geradezu synästhetische Existenz des Glücks zugeschrieben: »Licht« und »glänzend«, »wandeln« auf »weichem Boden«, »Götterlüfte« und »heilige Saiten«; den Menschen aber »fallen«, »blindlings«, »Leiden«, »geworfen«, »ungewiß« und »hinab«. Statik auf der einen, Dynamik auf der anderen Seite stehen sich gegenüber; die Verben bringen in den ersten beiden Strophen wenn überhaupt dann eine gemessene Bewegung zum Ausdruck, in der dritten jedoch sich überstürzende Aktion; die Welt der Götter erscheint zeitlos und ewig, die der Menschen zeitgebunden, begrenzt. Bis in die Lautung der Worte hinein reicht der Gegensatz, wenn für die Sphäre der Götter vorwiegend hohe Vokale wie »e«, »i«, »ei« oder »ü« verwendet werden, während das dunkle »u« ausschließlich in der dritten Strophe, hier aber massiert, vorkommt.

Man kann dies verstehen als ewigen und unabänderlichen Gegensatz zwischen der irdischen Existenz und einer den Menschen unerreichbaren göttlichen, oder auch als unveränderbaren sozialen Gegensatz zwischen oben und unten. Wie auch immer: die Antithese bleibt. Schon hier sei vorausgeschickt: auch die meisten Komponisten verstanden das Gedicht auf diese Weise und haben dem durch die musikalische Charakterisierung Rechnung getragen.

Eine solche Interpretation, die sich auch in den literaturwissenschaftlichen Deutungen mehrheitlich findet, übersieht allerdings eine geradezu banale Tatsache: es sind eben nicht zwei, sondern drei Strophen. Und nähere Betrachtung zeigt, daß die beiden ersten Strophen die Sphäre der »seligen Genien« keineswegs einheitlich und einförmig darstellen. Während die Charakterisierung in der ersten und dritten Strophe eindeutig ist, gilt dies für die zweite nur vordergründig,


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